"Mommy" von Xavier Dolan: Der Wolfsjunge
Der Frankokanadier Xavier Dolan, erst 25, erobert mit seinen exzessiven Familien- und Liebesdramen locker den Kino-Olymp. "Mommy" ist bereits sein fünfter Spielfilm - und ein Durchbruch.
Von Xavier Dolan zu behaupten, er habe keine Angst vor großen Gefühlen, wäre etwa so, wie über Bach zu sagen, er sei recht musikalisch gewesen. Über Marilyn Monroe, sie sei durchaus attraktiv. Oder über „Titanic“, der Film sei nicht ganz erfolglos. Nebenbei: Diese Beispiele deuten auf das Spektrum kultureller Referenzen, derer sich der Regisseur so sorglos wie leichthändig bedient.
Wie also sich dem Werk des 25-jährigen frankokanadischen Regiewunders nähern? Da er selbst das Überbordende so liebt, vielleicht mit einer gleich dreifachen Alliteration: exzentrisch, exzessiv, experimentell. Schließlich zählen die raschen Tempowechsel zwischen Zeitlupe und Raserei, die höchst eigene Mischung aus Schwärmerei und Realismus, das lustvolle Ausloten der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten seit seinem Debüt „J’ai tué ma mère“ (2009), das er mit 19 vorlegte, ach was: der Filmwelt vor die Füße knallte, zu seinen Markenzeichen.
Auch die 15-jährige Hauptfigur in „Mommy“ scheint von überwältigender emotionaler Zentrifugalkraft getrieben: Freude und Wut, Albernheit und körperliche Angriffslust müssen bei Steve (Antoine-Olivier Pilon) immer sofort raus. Medizinisch gesprochen: Er leidet an ADHS und einer nicht näher spezifizierten affektiven Störung. Nachdem er auch aus der letzten Jugendanstalt geflogen ist – er hatte das Gebäude in Brand gesetzt –, nimmt seine Mutter Diane (Anne Dorval) ihn wieder bei sich auf. Die wundervoll zwischen Vulgarität und Würde schwankende Überlebenskünstlerin ist ebenfalls nicht gerade ein Wunder an Diplomatie. So bewältigen Mutter und Sohn den Alltag nun meist schreiend, in herrlich grobem Québécois. Nachbarin Kyla (von Dolans Stammschauspielerin Suzanne Clément so geheimnisvoll wie berührend gespielt) dagegen wagt wegen ihres Stotterns das Sprechen – zumindest anfangs – kaum. Als heilsamer Gegenpol bringt sie etwas Balance in die explosive Kleinfamilie und schafft es dabei selbst, sich der Außenwelt wieder zu öffnen. Vom Glück einer fragilen Freundschaft, auch davon erzählt „Mommy“. Und das wunderbare Schauspielensemble lehrt einen in einer melancholisch-ausgelassenen Tanzszene sogar, Céline Dion zu lieben.
Xavier Dolan erlebt seinen Durchbruch
Mit seinem fünften Film, der in Cannes mit dem Preis der Jury (etwa: Bronzene Palme) ausgezeichnet wurde und sich an Frankreichs Kinokassen derzeit seiner ersten Zuschauermillion nähert, erlebt Dolan seinen Durchbruch beim breiten Publikum. Lange hatten Kritiker seinen Filmen vorgeworfen, sie seien prätentiös, opferten die Erzählung stilistischen Spielereien. Dabei sind Empfindung und Exzentrik, Selbstbestimmtheit und ästhetischer Eigensinn auch bei seinen Figuren eng verflochten. Wenn Steve in dramatischer Pose singt, seiner Mutter ein viel zu teures Geschenk aussucht, folgt er damit der inneren Not, für seine Gefühle eine Form zu finden. Ein Grenzgänger ist er, der gesellschaftliche Normen als Spielfeld betrachtet, Schranken jeder Art permanent auf ihre Dehnbarkeit hin testet.
Dafür hat auch der Regisseur einen aufsehenerregenden formalen Ausdruck gefunden: Statt auf üblichem Breitbild ist Mommy im quadratischen 1:1-Format erzählt. Das entspricht Dolans Hang zur Hommage: Viele Einstellungen gleichen betörend schönen Porträts, huldigen ekstatisch der Schönheit des Augenblicks. Andererseits steht das schmale Bild auch für die Eingeschlossenheit der Figuren. Und weil Dolan seinen Protagonisten wahrlich alles zutraut, gelingt es Steve in einer denkwürdigen Szene, das Bild in einer emphatisch-befreienden Geste auseinanderzuschieben – ein sensationeller Moment, der sich schon jetzt einschreibt in die Filmgeschichte.
Mit „Mommy“ ist Xavier Dolan seine bislang schönste Feier des Rechts auf Exzentrik und Eigensinn gelungen. Und es spricht für das außerordentliche Talent dieses unwiderstehlichen Film-Verführers, dass sich die Achterbahnfahrt vom höchsten Glück über tiefste Verzweiflung bis hin zu schreiender Komik nicht erschöpft. Im Gegenteil, nach dem Kinobesuch fühlt der Zuschauer sich mit innerer Stärke geradezu aufgeladen.
In zwölf Berliner Kinos; Om U im Filmrauschpalast und Rollberg
Julia Dettke
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