Film: Abenteuer der Gegenwart
Die Filme der belgischen Regie-Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne sind bewegende, vielfach preisgekrönte Sozialdramen. Ihr neues Werk, „Der Junge mit dem Fahrrad“, ist mehr als das: eine Liebesgeschichte, eine Hymne auf die Güte, mit der wunderbar fröhlichen Cécile de France
Wenn ein Film von einem halbwüchsigen Heimkind erzählt, das an falsche Freunde gerät und seine erste Gewalttat begeht, kann es sich nur um ein Sozialdrama handeln. Sozialdramen spielen in Jugendheimen und tristen Kleinstädten, ihre vom Leben betrogenen Helden werden von einer wackeligen Handkamera verfolgt, müssen ohne Filmmusik und Happy End auskommen, bestenfalls gibt es einen winzigen Hoffnungsschimmer. Den Filmen der belgischen Brüder Dardenne haftet dieses Etikett seit jeher an, zu Unrecht: Sozialdrama, das klingt abschätzig, altbacken, schrecklich gut gemeint, kurz: nach einem wenig unterhaltsamen Kinoabend. Die Filme der Dardennes hingegen sind Abenteuer der Gegenwart.
Also noch einmal. Wenn ein Film von einem halbwüchsigen Heimkind erzählt, dessen Pflegemutter es auch dann nicht im Stich lässt, als der Junge seine erste Gewalttat begeht, kann es sich nur um eine Liebesgeschichte handeln. Um ein Sommermärchen unter französischer Sonne, mit einer schönen Friseuse, um eine Hymne auf die Güte, zu der auch Bewohner von tristen Kleinstädten fähig sind.
Cyril ist zwölf. Sein Vater hat ihn ins Heim gesteckt, das Fahrrad des Jungen verkauft und sich vom Acker gemacht. Cyril kann das nicht glauben, wütend wählt er die alte Nummer, büchst aus, um den Vater und das Fahrrad zu suchen. Ein sturer, nervöser, hyperaktiver Wildfang im knallroten Shirt (Thomas Doret), dem auch die Kamera kaum hinterherkommt. Als Cyril mal wieder in der Wohnsiedlung nach Vater und Fahrrad fahndet, flüchtet er vor den Erziehern in eine Arztpraxis und klammert sich im Wartezimmer an die nächstbeste Frau. Die schüttelt ihn nicht ab, sondern wehrt sich mit nur einem Satz: „Du kannst dich festhalten, aber nicht so fest.“ So fängt es an mit Samantha und Cyril.
Samantha, die im Ort einen Friseurladen unterhält, kümmert sich um den Jungen, findet sein Fahrrad, nimmt ihn an den Wochenenden zu sich, treibt den Vater auf und bringt ihn dazu, dem Sohn die Wahrheit zu sagen: dass er ihn nicht mehr sehen will. Sie tröstet Cyril, nimmt ihn in die Arme, wenn er tobt, sich das Gesicht zerkratzt, mit dem Kopf an die Scheibe schlägt. Sie hält einfach zu ihm, eine lebenspraktische, bodenständige Frau. Große Worte macht sie nicht. Als ihr eifersüchtiger Freund sie vor die Alternative stellt, „Er oder ich“, sagt sie bloß „Er“. Und weil Samantha von der fröhlichen, attraktiven Cécile de France gespielt wird – die gebürtige Belgierin ist in Frankreich ein Star –, ist keine Spur von Sozialdrama oder menschelnder Rührseligkeit dabei.
Psychologie ist nicht die Sache von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Es gibt die Not, das Versagen, die Zwangslage, aber es gibt auch das Mitgefühl, die Zuneigung, den freien Willen. Die Moral ihrer Filme ist eine der Tat, auch in „Der Junge mit dem Fahrrad“. Cyril oder der Lover, man kann sich entscheiden. Samantha tut, was zu tun ist, und radelt mit Cyril am Flussufer entlang.
Und der Junge handelt anfangs zwar aus Berechnung – die Frau kann ihn zum Vater bringen – , aber seine Kruste bricht auf, wegen Samanthas beharrlicher Freundlichkeit. Auch er hat die Wahl: mit den Nachbarjungs zu bolzen oder sich im nahe gelegenen Wald der Bande anzuschließen, dessen Anführer alle den „Dealer“ nennen. Cyril braucht eine Vaterfigur, eifrig geht er mit dem „Dealer“ auf Raubzug, schlägt für ihn mit dem Baseballschläger zu.
Die Dardennes haben Erfahrung mit Geschichten über prekäre Familien, verlassene Kinder, Väter und Söhne. Jérémie Renier, der Darsteller von Cyrils Vater, spielt seit dem Dardenne-Debüt „Das Versprechen“ mit, erst als drangsalierter Sohn, später als Vater in Not, in Filmen, die auch so heißen, „Das Kind“ oder „Der Sohn“. Man kennt seine Figur gut, das Œuvre der Regie-Brüder verleiht ihr eine tragische Rollenbiografie am Rande des Abgrunds. Es ist diese Sorgsamkeit der Charakterzeichnung sowie die agile, aufmerksame Kamera der Dardennes, die nun auch ihren sechsten Film auszeichnet. In Cannes bekamen sie den Großen Jurypreis dafür.
Bloß die Panik und Härte ist weg in „Der Junge mit dem Fahrrad“, die schier atemlose Handkameraführung, die noch den Palmen-Sieger „Rosetta“ prägte. Als wirke sich Samanthas Güte auch auf die Bilder aus, auf das Licht, das sich aufgehellt hat, den elliptischen Erzählrhythmus, die ruhigere Montage. Cécile de France ist der erste Star in der Filmfamilie der Dardennes. Ihr glamouröser Charme färbt auf den erzählerischen Duktus ab, umgekehrt stattet sie die Kleinstadt-Friseurin ihrerseits mit einer Wahrhaftigkeit aus, die man so schnell nicht vergisst. Ebenso wenig wie Cyrils Verve, mit der er sich erkämpft, wonach er sich sehnt, und sei es auf Irrwegen. Sein Recht auf Glück, darin gründet seine Sturheit, seine Weigerung aufzugeben. Alle Dardenne-Filme begeben sich auf die Nachtseite der Wohlstandsgesellschaft, ihre Figuren sind Helden der Ausweglosigkeit. Aber das Licht hellt sich auf, die Dardennes weigern sich zunehmend, fatalistisch zu sein. Menschen können helfen. Und weil es nach der von Samantha organisierten Einigung zwischen Cyril und seinen Opfern ein gefährliches Nachspiel gibt, weil es um ein Haar doch zur Tragödie kommt, haftet diesem Gedanken nichts Verharmlosendes an. Die Welt ist die Hölle, aber es gibt einen Trost, die Gnade der Empathie, die Liebe, die harte Arbeit bedeutet.
Die Filmmusik, die erste bei den Dardennes, singt ein Lied davon. Es sind nur ein paar Takte aus dem Adagio von Beethovens 5. Klavierkonzert, die immer wieder erklingen, eine gleißender Hoffnungsschimmer, eine Protestnote gegen die Resignation.
Ab Donnerstag im Filmkunst 66, FT am Friedrichshain, Passage. OmU: fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe
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