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Peter Simonischek als Winfried/Toni und Sandra Hüller als Ines im deutschen Wettbewerbsbeitrag für Cannes.
© Komplizen Film/NFP marketing & distribution/dpa

Deutscher Cannes-Beitrag "Toni Erdmann": Ein Paar wie Horst Schlämmer und Anna Kendrick

Lachen, Jauchzen, Zwischenapplaus: "Toni Erdmann" von Maren Ade, der deutsche Wettbewerbsfilm in Cannes, begeistert am Freitagabend die internationalen Kritiker. Sonnabend ist Publikumspremiere.

Geht es nach dem Applaus am Freitag spätabends bei der Pressevorführung in Cannes, dann ist Maren Ades neuem Film bereits jetzt eine Favoritenposition sicher. Erst recht aber nach dem - kritikerseits weitaus seltener gewährten - Zwischenapplaus. Da hat Sandra Hüller, die Hauptdarstellerin und, das passt in jeder Hinsicht, auch Heldin von „Toni Erdmann“, sich gerade zur Plastikklavierbegleitung ihres Filmvaters Peter Simonischek mit Whitney Houstons „Greatest Love of All“ die Seele aus dem Leib gesungen. Ach was Seele, das ganze Leben. Ach was gesungen, geschrien hat sie. Und im dunklen Zuschauerraum brandet regelrechter Popkonzertjubel auf.

Zu dem Zeitpunkt sind rund zwei Stunden des fast dreistündigen Films bereits vorüber, und schon zuvor hatte sich das Publikum mit warmem Gelächter und manchem Schreckensjauchzer keineswegs zurückgehalten. Auch die Gesangsszene hat ihren aberwitzigen Hintergrund. Vater Winfried und Tochter Ines sind, einander widerstrebend und zugleich immer tiefer nachgebend, die Überraschungsgäste einer rumänischen Osterparty. Papa mimt den deutschen Botschafter in Bukarest, und die junge, so selbstbeherrschte Frau, die sich schluchzend frohlockend in sich selbst verwandelt, kündigt er vor dem Karaoke-Auftritt als „meine Assistentin Whitney Schnuck“ an.

Keine Frage, reichlich verrückt und vor allem verdammt lustig, diese Konstellation: Alleinlebender Alt-Achtundsechziger und weitgehend ausgemusterter Klavierlehrer, dem gerade das Hundchen weggestorben ist, bringt das cool geordnete Leben aufstiegsgieriger Jung-Managerin durcheinander, die als Unternehmensberaterin unrentable rumänische Firmen verschlankt. Hier Winfrieds Rentnerschlabberlook, dort Ines' top sitzender Business-Suit. Hier der mit Billigscherzartikeln bewaffnete Witzereißer mit Wampe, dort die fitgecoachte Geschäftsfrau, die demnächst in den Zukunftsmarkt Schanghai wechselt. Und: Hier unkämmbarer Grauwuschelkopf, dort Blondhaaransatz und Lippenstiftkante wie mit dem Filetiermesser gezogen.

Ein Stalker in Familienangelegenheiten

Man muss sich die zwei, die sich erst irgendwo im hinteren deutschen Westen und dann in Bukarest massiv in die Quere kommen, ein bisschen wie Hape Kerkelings Horst Schlämmer und Anna Kendrick aus „Up in the Air“ vorstellen. Natürlich ist das, schaut man nur hinter die Maskeraden, brutalstmöglich todtraurig.

Der altwerdende Vater will die längst verlorene erwachsene Tochter mit allerlei grobschlächtigen und auch unlauteren Mitteln zurückgewinnen. Also lauert er ihr am Arbeitsplatz auf, sprengt Empfänge, Geschäftstreffen, dringt sogar in ihrer Abwesenheit in ihre Wohnung ein. Ein Stalker in Familienangelegenheiten, ein Ritter von der lächerlichen Gestalt, eine Nervensäge, ein Geisterbahngespenst. Und auf der anderen Seite Ines, die sich ihrer Gespensterhaftigkeit langsam bewusst wird und diesen Witz von Vater für die eigene verspätete Ichwerdung zu benutzen beginnt.

Ein Duell. Fast so quälend lange unentschieden, mit hart hingepfefferten Dialogsätzen und kurzem Kräftesammelschweigen wie in „Alle Anderen“, womit Maren Ade bereits vor sieben Jahren international schwer Eindruck machte - auf der Berlinale, wo der Film mit dem Großen Preis der Jury und Hauptakteurin Birgit Minichmayr ausgezeichnet wurden. Nur dass damals ein miteinander ziemlich frisches und doch schon in Ritualen erstarrendes Anfangdreißigerpaar aneinander herumlaborierte, ausgestattet unter anderem mit einem mitterweile legendären Penissymbolchen, der Ingwerknolle „Schnappi“.

Hier nun bringt Winfried seiner Tochter, die nie Zeit zum Kochen hat, ausgerechnet eine Designer-Käsereibe mit, als er aufschlägt bei ihr im fernen europäischen Osten. Soviel zu den Running Gags bei Maren Ade, sie verlaufen sich, zerlaufen, werden fortgespült in den großen Lebenskatzenjammer.

Bis sich der eigentlich abgereiste Papa in den titelgebenden Toni Erdmann im dauermarineblauen Anzug und mit mal schwarzer, mal dunkelroter, mal blonder Perücke verwandelt, und damit treibt der Film im Schatten des Spektakulären in eine transzendente Ebene hinüber. Er ist das zum Monster aufgedunsene Erdmännchen, das sogar die Gestalt eines Zottelriesen annehmen kann - und ist dabei doch nichts als ein mit ein bisschen Mensch ausgestopftes Secondhandkostüm aus frühbulgarischen Mythologien. Aber eben: irdisch, verwurzelt, irgendwohin wegsterbend auch eines näheren Tages. Und endlich geeignet, ein Kunstluftwesen wie Ines aufzufangen, zu halten und zu erden.

Seine populärsten Momente hat „Toni Erdmann“ immer dort, wo sich die Komik auch in der sozial schlimmstmöglichen Situation behauptet; zu seiner stärksten Kraft aber findet er, wenn Verzweiflung und  Einsamkeit sich immer provokanter und souveräner Bahn brechen und mitten im üblichen Alltagswahnsinn weiter bestehen. Wobei Maren Ade die dramaturgischen Steigerungsregister elegant zieht bis zu einer Szene, die schon jetzt zu den nachhaltigsten Kinoerfindungen dieses Festivals gehören dürfte, und dabei hat es doch kaum erst angefangen.

Schwächen? Ein bisschen kürzer könnte „Toni Erdmann“ sein - aber wäre dann die Penetranz der väterlichen Nachstellung so durchdringend spürbar? Und Peter Simonischek, komplementär so großartig besetzt wie sein Gegenpart Sandra Hüller, muss dann doch den zuschauerseits längst verstandenen tieferen Sinn des Ganzen kurz ausverbalisieren. Egal. Dieser „Toni Erdmann“, der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag in Cannes seit acht Jahren, kann sich sehen und fühlen lassen.

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