Rolando Villazon triumphiert an der Staatsoper: Die Liebe ist ein seltsames Ziel
Daniel Barenboim und Claus Guth entführen an der Berliner Staatsoper in die Traumwelten von Bohuslav Martinus „Juliette“.
Dieser Abend ist ein Triumph für Rolando Villazon. Nicht für den Sänger, wohl aber für den Schauspieler. Mit seiner enormen Bühnenpräsenz hat der Mexikaner ja schon immer gepunktet – so radikal aber, so berührend wie jetzt in Bohuslav Martinus „Juliette“ an der Berliner Staatsoper konnte er sein darstellerisches Potenzial noch nie ausreizen. Wie er zu Beginn aus einem Albtraum aufschreckt, wie es dabei seinen ganzer Körper vor Schreck tatsächlich auseinander reißt, aus der kauernd auf dem Boden liegenden Schlafposition gleichzeitig in alle Richtungen, gleich einer Katze, die buckelnd und mit gesträubtem Fell ihr Fauchen ausstößt, – das macht Villazon auf den Opernbühnen der Welt keiner nach. Nein, liebe Jonas-Kaufmann-Fans, noch nicht einmal sein Nachfolger als Nummer Eins der Startenöre.
Rolando Villazons seit Jahren schwer angeschlagener Stimme wird diese Produktion womöglich den Todesstoß versetzen. Doch er kann eben nicht anders, er muss das Feuer lodern lassen. Im Dienste der Kunst, aus rückhaltloser Leidenschaft für die Sache. Bei der es sich in diesem Fall um eine Rarität handelt, dem wohl einzigen Meisterwerk des musikalischen Surrealismus, komponiert von einem Tschechen, der 1923 dem von Bedrich Smetanas Heimatstil dominierten Prag entflohen war, nach Paris, in die damalige Weltkulturhauptstadt, und der dort all die widerstreitenden Stile in sich aufsog, die man in den Theatern, Cabarets und Künstlerkneipen zwischen Montmartre und Montparnasse erleben konnte.
Claude Debussys Klanggespinste waren für Martinu eine Offenbarung gewesen, jetzt lernte er auch Strawinskys archaisch-radikale Rhythmen kennen, die provokant-dandyhaften Spielereien der Groupe des six um Jean Cocteau. Und eben den Surrealismus. Georges Neveux’ Theaterstück „Juliette oder der Schlüssel der Träume“ sieht er kurz nach der Uraufführung 1930 – und erkennt sofort dessen musikdramatisches Potenzial: Die Hauptfigur der Geschichte ist Michel, ein Buchhändler aus Paris, der seine Traumfrau sucht, jene Juliette, die er vor Jahren bei einem Besuch in der Provinz kurz am Fenster gesehen hat. Als er endlich in die Stadt zurückkehrt, muss er feststellen, dass dort alle Bewohner ihr Gedächtnis verloren haben. Zwar begegnet er Juliette schließlich doch – ihr Rendezvous aber endet mit einem Schuss. Im „Zentralbüro der Träume“ erhofft sich der von Schuldgefühlen Geplagte Hilfe – da hört er plötzlich hinter einer verschlossenen Tür Juliettes Stimme ...
Neveux hatte den Stoff zwar bereits Kurt Weill versprochen, doch als Martinu bei ihm anklopft und ihm den 1. Akt am Klavier vorspielt, räumt er doch dem Tschechen das Recht der Vertonung ein. Und wird im Rückblick auf die Uraufführung in Prag 1938 überglücklich notieren: „Zum ersten Mal in meinem Leben betrat ich wirklich die Welt der Juliette, eine Welt, in die ich in meinem Stück nur hineinblicken ließ.“
Das Surreale liegt bei Barenboim in den allerbesten Händen
Es ist schon erstaunlich, dass der Surrealismus, der sich verbaler Erklärungen ebenso entzieht wie eigentlich fast alle Musik, so wenige Komponisten inspiriert hat. Die meisten von ihnen waren damals, Mitte der dreißiger Jahre, damit beschäftigt, die Überwältigungsstrategien der Spätromantik zu bekämpfen, die ganzen Wagner-Nachfolger mit ihrem narkotisierenden Klangbombast. Das ging am besten durch Ironisierung und Rückgriff auf barocke Formen: Der Neoklassizismus war ganz groß in Mode.
Auch bei Martinu finden sich Anklänge daran. Ebenso aber verarbeitet er auch alle anderen Ästhetiken seiner Zeit, und zwar mit einem genuinen Instinkt für theatralische Wirkungen. „Juliette“ ist eine handwerklich virtuos gemachte Collage, zusammengeleimt aus lauter abgelauschten Schnipseln. Blitzschnell muss das Orchester darum von maschinenhafter Perpetuum-Mobile-Musik zum gleißenden Streicherglanz umschalten können, vom verspielten Celesta-Triangel-Geklingel zur wilden Seelenerregung. Für die Berliner Staatskapelle ist das natürlich kein Problem.
Von den 60 Premieren, die Daniel Barenboim seit 1992 als Generalmusikdirektor an der Staatsoper geleitet hat, stammten gerade einmal neun Werke nicht aus dem Kernrepertoire. Vier zeitgenössische Stücke waren dabei, zwei Opern von Ferruccio Busoni, dazu Jules Massenets „Manon“ sowie je eine Rarität von Rimsky-Korsakow und Sergej Prokofjew. Martinus klingender Kosmopolitismus bringt nun all das in einer Partitur zusammen – und Daniel Barenboim koordiniert das buntscheckige Geschehen mit der Souveränität des Großmeisters, lässt das scheinbar so Disparate in einen organischen Klangfluss münden. Maestro, bitte mehr davon!
Villazon reicht als trauriger Clown an Charlie Chaplin heran
Von seinem Bühnenbildner Alfred Peter hat sich Regisseur Claus Guth eine weiße Kiste mit zahllosen Türen, Klappen und Schubladen bauen lassen. Soll diese optische Leerstelle das Gehirn des Verliebten darstellen, ist sie als Echoraum von Michels Gedanken gedacht? Jenseits der normalen Vorstellungskraft jedenfalls ist alles, was hier passiert. In jener sekundengenau getakteten, geometrisch-strengen Personenführung, wie die sein Markenzeichen ist, führt Guth die Figuren durch diese Traumwelt. Von den in Mehrfachrollen geforderten Solisten Richard Croft, Elsa Dreisig, Thomas Lichtenecker, Adriane Queiroz oder Wolfgang Schöne bis hin zu Choristen (Einstudierung: Martin Wright) und Tänzern (Choreographie: Ramses Sigl) bewegen sich dabei alle Beteiligten mit einer Sicherheit durch den dreieinhalbstündigen Abend, die man traumwandlerisch nennen würde – wenn ihr die harte Gedanken- und Probenarbeit des Regisseurs nicht stets anzusehen wären.
Sie alle aber bleiben nur Statisten, selbst Magdalena Kozena als Juliette, bei diesem großen Villazon-Abend. Charlie Chaplin als Referenz für seine schauspielerische Leistung aufzurufen, ist nicht zu hoch gegriffen. Denn Villazon ist ein trauriger Clown, ein Virtuose der übergroßen Stummfilm-Bewegungen, der mal eben zum Puppenspieler wird, wenn man ihm einen Plüschpapagei über die Hand stülpt, der den running gag mit der Pistole, die er einfach nicht loswerden kann, grandios durchzieht. Der aber eben auch dem Zuschauer ans Herz greift in seiner emotionalen Orientierungslosigkeit, seinem hilflosen Herumtappen in der fremden, unlogischen Umgebung. Der Liebe sucht und doch nur Verzweiflung finden kann.
Weitere Aufführungen am 2., 5., 7., 10., 14. und 18. Juni.