zum Hauptinhalt
Erziehung der Gefühle. Der autobiografische Roman der Schriftstellerin Chris Kraus changiert zwischen Kulturkritik und Dreiecksgeschichte.
© Reynaldo Rivera

„I Love Dick“ von Chris Kraus: Die Liebe in Gedanken

Feminismus und Romantik: Chris Kraus und der erstaunliche Erfolg ihres Buchs „I Love Dick“, Dokument einer weiblichen Selbstfindung und Selbstermächtigung.

So etwas soll vorkommen, und es passiert Männern wie Frauen: Dass die Liebe wie ein Blitz einschlägt, dann aber eine einseitige, unerwiderte bleibt. Es ist der 3. Dezember des Jahres 1994, als die experimentelle Filmemacherin Chris Kraus und ihr Ehemann, der New Yorker College-Professor, Verleger und Proust-Kenner Sylvère Lotringer sich mit einem Bekannten zum Essen treffen, mit einem Mann namens Dick. Schon beim Essen hat Chris Kraus das Gefühl, dass er ihr dauernd Blicke zuwirft, mit ihr flirtet. Dick lädt das Ehepaar dann ein, bei ihm zu übernachten. Sie reden weiter, trinken weiter, einfach so, ohne dass es weitere Annäherungen gibt, und am nächsten Morgen ist Dick verschwunden. Weitergehendes Interesse an Chris hat er nicht. Um sie aber ist es geschehen. Nachdem sie die ganze Nacht in Dicks Haus von ihm geträumt hat, ist sie nun bis über beide Ohren verliebt und beginnt eine Erzählung mit dem Titel „Abstrakte Romantik“ zu schreiben.

Dabei bleibt es nicht. Weil Chris Kraus aus ihrer Paarhaftigkeit ausbrechen möchte, sie und Sylvère seit Jahren keinen Sex mehr haben, Sylvère sie trotzdem weiter innigst liebt und es unerträglich findet, seine Noch-Ehefrau traurig zu sehen, schreiben sie Dick gemeinsam Briefe, zumeist im Wechsel. Später dann, Chris hat Sylvère verlassen, schreibt nur noch sie, und zwar gleich ein Buch: über sich und ihr Leben zu jener Zeit, über ihre und Sylvères Briefe, über ihre unerwiderte Liebe, „I Love Dick“. Das Buch erschien 1997 in Lotringers Verlag Semiotext(e), ohne sich groß zu verkaufen oder für übermäßig Aufsehen zu sorgen. Es wurde in den USA ein weiteres Mal 2006 in einem anderen Verlag veröffentlicht und von einer neuen, jüngeren Generation entdeckt. Und nun ist es erstmals von dem Schriftsteller Kevin Vennemann ins Deutsche übersetzt worden; zudem wird es, nach einem erfolgreichen Pilotfilm im vergangenen Jahr, ab Mai auch eine „I Love Dick“-Amazon-Serie geben. Kraus’ Buch macht also, obwohl es zwanzig Jahre alt ist, noch einmal Karriere.

Mitunter humorvoll und selbstironisch

Was einerseits daran liegen könnte, dass es das Dokument einer mitunter humorvollen, auch selbstironischen weiblichen Selbstfindung und Selbstermächtigung ist. Davon scheint es, wie die Begeisterung vieler Rezensentinnen beweist, immer noch viel zu wenige zu geben. Kraus gesteht einerseits offen-ironisch ein, „ein romantisches Mädchen“ zu sein, eine „Phänomenologie der einsamen Mädchen“ zu schreiben, fragt aber auch: „Warum glauben eigentlich alle, dass Frauen sich erniedrigen, wenn wir die Bedingungen unserer eigenen Erniedrigung bloßstellen? Warum müssen Frauen immer sauber rüberkommen?“ Zudem hebt sie immer wieder darauf ab, wie es um den Feminismus in ihrem eigenen Milieu bestellt ist, dem der Kunst, des Kunstbetriebs und der Theorie: eher schlecht. „Lieber Dick“, schreibt sie in einem Brief, „was heutzutage unter Frauen geschieht, ist das Interessanteste auf der Welt, weil es am wenigsten beschrieben wird.“

Und fragt wieder bezüglich des Ansehens und Verstehens weiblicher Kunst: „Warum ist die weibliche Verletzlichkeit nach wie vor allein dann akzeptabel, wenn sie neurotisiert und persönlich ist, wenn sie auf sich selbst verweist? Warum begreifen die Leute es immer noch nicht, wenn wir mit der Verletzlichkeit wie mit der Philosophie umgehen, nämlich mit einigem Abstand?“

Den Abstand zu ihrer Liebesobsession, ihren Sehnsuchtsoffenbarungen, ihrer eigenen Verletzlichkeit, diesen Abstand hat Kraus ebenfalls auf einer formalen, künstlerischen Ebene mit in ihr Buch eingebracht. Was hierzulande seinem Erfolg zusätzlich förderlich gewesen sein mag, erstaunlicherweise. „I Love Dick“ liest sich teilweise wie eine Art Autobiografie. Auch die beiden anderen Hauptfiguren dieses Buches sind reale Personen. Ihr Mann Sylvère, klar, Sohn polnisch-jüdischer Immigranten, der im besetzten Paris den Holocaust mit falschen Papieren überlebte. Und eben Dick, der mit Nachnamen Hebdige heißt, von Beruf gleichfalls Professor, Cultural-Studies-Experte, Autor eines Buches wie „Subculture. The Meaning of Style“. Was von Kraus in Dicks Fall nie erwähnt wird, nicht zuletzt weil Hebdige ihr seinerzeit per Anwalt schnell eine Unterlassungserklärung hat zukommen lassen.

Roman oder Autobiografie?

Andererseits ist von Beginn an klar, dass „I Love Dick“ fiktive Elemente enthält. Sylvère und Chris verstehen ihre Briefe auch als „irgendwas zwischen Belletristik und Kulturkritik“. Sie fragen sich, ob sie Dick diese überhaupt zukommen lassen sollen. Einmal schreibt Chris, sie überlege, „die Briefe um dein Haus herum zu verteilen und auf die Kakteen zu kleben“ und sich dann bei seiner Ankunft mit einer Videokamera hinter einem Busch des Hauses zu verstecken, wahlweise einer Machete. Und Sylvère äußert am gleichen Tag, sie hätten beschlossen, „diese Korrespondenz zu veröffentlichen, und wir haben uns gefragt, ob du eine Einführung würdest schreiben wollen.“ Von einem „kulturellen Dokument“ spricht er zudem, in den Briefen drücke sich schließlich die „Entfremdung des postmodernen Intellektuellen in ihrer kränksten Form aus“.

Man merkt bei solchen Formulierungen, wieviel Spaß Kraus und Lotringer hatten, wie spielerisch sie diese Korrespondenz angingen, wie sie sich womöglich ihrer selbst als Ehepaar noch einmal versicherten. Und beim Lesen interessiert es wirklich so gar nicht, wie real Chris’ Schwärmerei oder Verliebtheit nun ist. Ob diese nicht selbst auf einer Fiktion beruht, ja, ob Kraus hier nun einen Roman oder eine Autobiografie schreibt. Zumal, Vorsicht, Binsenweisheit!, jede Autobiografie bei der Niederschrift ihre künstlerische Zurichtung erfährt, jede Erinnerung trügerisch und damit potentiell fiktiv ist. Und so weiß Kraus nur zu gut: „Auf eine Art ist also die Liebe genau wie das Schreiben: in einem dermaßen erhöhten Zustand zu leben, dass Genauigkeit und Bewusstsein unverzichtbar werden.“

"I Love Dick" ist auch ein Bildungsroman

Chris Kraus instrumentalisiert ihre Briefe nicht nur, in dem sie Auskunft über sich selbst gibt, über ihre Erfahrungen, die sie während ihrer Kindheit und Jugend in Neuseeland gemacht hat, über ihr Leben und Sich-Durchwursteln in New York, über die Finanzierungsprobleme ihres Films. Nein, vielmehr unternimmt sie – Dick scheint nurmehr Mittel zum Zweck zu sein – kluge essayistische und kunstkritische Exkursionen. Sie porträtiert die Juristin und Menschenrechtsaktivistin Jennifer Harbury und Künstler und Künstlerinnen wie R.B. Kitaj oder Hannah Wilke. Oder sie versucht, wie der Psychoanalytiker und Philosoph Felix Guattari, die Liebe und die Schizophrenie miteinander zu vermengen, überhaupt dieser Krankheit kreative Seiten abzugewinnen, was viel weniger überzeugt als ihre kunstkritischen Erörterungen.

Am Ende trifft sie Dick noch einmal bei einer Ausstellungseröffnung. Dabei fühlt Chris sich wie der Held aus Flauberts „Éducation sentimentale“, Frédéric Moreau, als dieser „verspätet und uneingeladen Monsieur Dambreuses elitären Salon betritt“. Scheitert Flauberts Held aber bekanntermaßen auf ganzer Linie, in der Liebe zu einer verheirateten Frau genauso wie beruflich, so gelingt es Kraus doch noch, ihren Film zu realisieren. Heute versteht sie sich vor allem als Schriftstellerin. Nach „I Love Dick“ schrieb sie mehrere weitere Bücher, literarische genauso wie kunstkritische, und im Moment arbeitet Kraus an einer Biografie der 1997 verstorbenen amerikanischen Schriftstellerin Kathy Acker, einer Schwester im Geiste gewissermaßen. Nicht jeder Bildungsroman, der „I Love Dick“ ja auch ist, nimmt ein schmachvolles Ende.

Chris Kraus: I love Dick. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Kevin Vennemann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 296 Seiten, 22 €.

Gerrit Bartels

Zur Startseite