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Ist das noch der Kapitalismus, in dem wir leben? Die Pyramide, wie sie Nedeljkovich, Brashick und Kuharich 1911 für ein Plakat der amerikanischen Sozialisten entwarfen, wirkt in Zeiten fiktionalisierter Geldströme reichlich antiquiert. Foto: IAM/akg-images
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Debatte: Lasst uns Gespenster jagen

Was sich kaum erzählen lässt: Schriftsteller und Kritiker streiten in Hamburg über Kapitalismuskritik.

Autoren, die ihrem Weltbild sprachlich nicht gewachsen seien, notierte Gottfried Benn einmal handschriftlich in einer Festschrift zu Ehren des Kulturphilosophen Rudolf Pannwitz, nenne man in Deutschland Seher. Es ist ein wenig schief, dies auf die großen Kapitalismuskritiker der letzten Jahrzehnte anzuwenden. Doch es gilt, etwas Doppeltes festzuhalten.

Zum einen sind ihnen die unmittelbar sichtbaren Folgen kapitalistischen Wirtschaftens tatsächlich abhanden gekommen: Das allgemeine Prosperieren der modernen Konsumgesellschaften hat die meisten marxistischen Verelendungsprognosen Lügen gestraft. Zum anderen hat das Räsonieren über innere Begehrensströme, richtige und falsche Bedürfnisse, einen visionären Zug bekommen, der auf den Stil durchschlägt. „Anti-Ödipus“ und „Tausend Plateaus“, die beiden Bände, die Gilles Deleuze und Félix Guattari dem Zusammenhang von „Kapitalismus und Schizophrenie“ widmen, schwanken so heftig zwischen Klarsicht, Bilderwut und hellseherischer clairvoyance, dass deliranter Jargon und elektrisierte Erkenntnis oft kaum auseinanderzuhalten sind.

Der einflussreichste deutsche Deleuzianer ist der Berliner Germanist Joseph Vogl. Obwohl er sich schon eine ganze Reihe von Jahren mit dem Selbstentwurf des zeitgenössischen Homo oeconomicus beschäftigt, hat ihn doch erst sein Essay „Das Gespenst des Kapitals“ (Diaphanes Verlag) an die Spitze der kulturwissenschaftlichen Wirtschaftsweisen katapultiert. Kein anderes Buch, jubelten vor drei Jahren die Feuilletons, werde dem Finanzcrash von 2007/2008 besser gerecht. Vogl beschreibt darin die vollkommene Fiktionalisierung der Finanzströme, die Abkopplung des Geldverkehrs von der Warenproduktion und die Ersetzung der Theodizee durch die Oikodizee: Statt des Glaubens an den ordnenden Willens Gottes regiert über Leid und Ungerechtigkeit hinweg nun der Glaube an das Selbstregulative der Märkte – eine Neukonzeption von Adam Smiths Prinzip der „invisible hand“.

Bei der Hamburger Begegnung, die im dortigen Literaturhaus zum vierten Mal knapp 30 Schriftsteller und Kritiker zusammenführte, war Vogl zwei Tage lang der Bezugspunkt, um über den Stand der Kapitalismuskritik nachzudenken – und darüber, was die Literatur in ihren Sphären verloren hat. Der nicht anwesende Stichwortgeber war für manche seiner Thesen schon von Ökonomen heftig angegriffen worden. Was ihm jetzt aber vorgehalten wurde, hätte ihm den Rest gegeben. Feridun Zaimoglu zeigte sich verärgert über das wunderlich akademische Deutsch, in dem Vogl Wirtschaftstheorien mit den Mitteln der Diskursanalyse begegne. „Der Jargon des Kapitals“, erklärte er, „frisst auch Vogls Sprache.“

Karl-Heinz Ott verwies auf das schlichte Strickmuster der Argumentation, bei der das Unübersichtliche der Lage zugleich ins Undarstellbare verbannt werde, aber mit den immergleichen Epitheta aufgerufen werde: dem Diabolischen, dem Erratischen und dem Irrationalen. Ijoma Mangold schließlich wunderte sich, dass ein poststrukturalistisch geprägter Semiologe wie Vogl, dem das Entreferenzialisierte von Kafkas Welten Jubelschreie entlocke, der Blick auf die selbstreferenziellen Systeme der Finanzwirtschaft plötzlich Aversionen verschaffe. Was ist da los?

Ein Grund für die Vorbehalte ist sicher, dass Vogl von einer Ökonomie spricht, der alles Gesellschaftliche ausgetrieben worden ist. Selbst die radikalste Theorie, so Michael Schmitt, könne aber nicht behaupten: There is no society. Es ist dieses Moment, das Ulrich Peltzer dazu brachte, das „Gespenst des Kapitals“ als „apolitisches Buch“ hinzustellen. Es ist denn auch weniger das Fehlen von Handlungsanweisungen, das Vogls Essay seine Zwiespältigkeit verleiht, als vielmehr die Abwesenheit von Handlungsspielräumen überhaupt – von anders Möglichem.

Dafür ist seit jeher die Literatur zuständig. Nur hat sie noch größere Probleme auf Entwicklungen zu reagieren, die nur bedingt Akteure und Ereignisse im gewohnten Sinn hervorbringen. Oder ist Vogls Essay, Wissenschaftsprosa mit durchaus literarischer Eleganz, selbst schon Theorieliteratur, wie Lothar Müller meinte? Sicher handelt es sich um eine „Gespenstererzählung“ mit entsprechenden Adjektiven, Metaphern und Doppelgängermotiven, doch das Argumentative ist stets wichtiger als das Atmosphärische.

Sybille Lewitscharoff war noch am optimistischsten, dass man das Veloziferische (Goethe) der Verhältnisse ins Erzählende wenden könne. Als moderne Form der Phantasmagorie sei der Entgrenzungswahn zumindest „als Unterstrom“ darstellbar. Nur wie? Robert Schindel trug ein sinistres Prosapoem über das Kapital als „Liebesgeschichte zwischen inneren und äußeren Dingen“ vor, und Jo Lendle inszenierte einen Dialog, der Joseph Vogl im Stammheimer Gefängnis als Bewährungshelfer auf Uli Hoeneß treffen ließ: Beide reden in ihrer Sprache – und völlig aneinander vorbei.

Wenn es wenig geglückte Romane über die heutige Finanzwelt gibt, so liegt dies vielleicht auch daran, dass die Erwartung am falschen Ende ansetzt. Vielleicht ist es nicht nur unmöglich, abzubilden, wie mathematische Modelle die Gegenwart hysterisieren und Zukunftsräume aufzehren, wie Meike Feßmann ausführte, es ist obendrein Unsinn und die ästhetische Sehnsucht danach ein neomarxistischer Irrtum. Zum entscheidenden Punkt der Auseinandersetzung wurde, ob der Vorwurf, dass die Literatur den Ereignissen hinterherhinke, nicht deshalb absurd sei, weil sie in ihren sprachlichen und stofflichen Konstellationen etwas speichere, das uns die Zukunft zurückgebe, bevor sie verschwendet wird. „Die Frage ist“, wie Jürgen Ritte erklärte, „was Literatur schon vorher weiß.“

Gemeint ist damit nichts Prophetisches. Gemeint sind auch nicht die zahllosen Dystopien, die mal mehr, mal weniger populär, ein apokalyptisches Ende des Planeten entwerfen – oft genug in der fatalistischen Überzeugung, dass ohnehin alles den Bach hinuntergeht. Gemeint ist so etwas wie die rätselhafte, allem Politischen abholde Verweigerung von Herman Melvilles Bartleby, der sich in der Kanzlei seines Arbeitgebers verschanzt und mit freundlicher Insistenz die immergleichen Worte sagt: „I would prefer not to.“ Das ist eine Geste. Ob sie ausreicht in einer Welt, die neben einem Übermaß an Virtualisierung nach wie vor die handgreiflichsten sozialen Wirklichkeiten hervorbringt, ist eine nicht minder legitime Frage.

Gregor Dotzauer

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