Kultur: Der Passagier
Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin präsentiert das Werk des amerikanischen Malers R.B. Kitaj. Seine Gemälde lassen sich wie Bildergeschichten lesen, nicht von links nach rechts, sondern ineinandergeschachtelt Ihr Thema: Was es bedeutet, ein Jude zu sein
Es ist Herbst, das spürt der Betrachter des Bildes sogleich. Die Gäste auf der Terrasse vor dem Café Les Deux Magots ziehen fröstelnd die Schultern zusammen. „Der Herbst von Zentral-Paris (nach Walter Benjamin)“, so hat R. B. Kitaj sein 1972/73 entstandenes Gemälde genannt. Tatsächlich sitzt ein rauchender Mann mit hoher Stirn im Zentrum des Bildes, den man als Walter Benjamin identifizieren kann. Davor hat sich eine Rückenfigur geschoben, die den Denker halb verdeckt und ein Hörgerät trägt. Es ist der Künstler selbst, der sich hier in die Gesellschaft eines Seelenverwandten begibt. Wie sich selbst nannte er Benjamin einen „Diasporisten“: zwei Juden in der Fremde.
Kitaj malt Benjamin kurz vor seiner Flucht vor den Nazis, im spanischen Portbou wird sich der Philosoph 1940 das Leben nehmen. Ein melancholischer Moment des Abschieds. Der bei der Entstehung des Bildes 40-jährige Maler hat aber noch ein reiches Leben vor sich. Auch er wird jedoch am Ende, wenige Tage vor seinem 75. Geburtstag, Suizid begehen, aus Verzweiflung über die zunehmenden Parkinsonsymptome, die ihm die gewohnten Tagesabläufe unmöglich machen und das Malen verbieten.
Kitajs Gemälde lassen sich lesen wie Bildergeschichten, nicht von links nach rechts, sondern ineinandergeschachtelt. Unter der Cafémarkise, genau dort, wo Benjamin sitzt, saß auch der Künstler selbst einmal, eine Fotografie zeugt davon. Er platziert den bewunderten Autor des Passagenwerks an seine Stelle. Die Physiognomie Benjamins aber entspricht bei genauerem Hinsehen der des ebenfalls von Kitaj verehrten Dramatikers George S. Kaufmann. Die zerstörten Scheiben im Café deuten auf den Anfang der siebziger Jahre begonnenen Abriss der nahe gelegenen Pariser Markthallen hin, ebenso der Mann mit Spitzhacke am Bildrand.
Die Bildergeschichten des Malers greifen weit aus, beziehen Historisches, Privates, aktuelle Tagespolitik ein, verschmelzen sie zur Collage. Der Maler hatte sich viel vorgenommen. In Anlehnung an Walter Benjamin wollte er die Kunst wieder zum Reflexionsmedium machen. Eine Ausnahmeerscheinung, sowohl für das Jüdische Museum, das sich als historische Institution kaum mit Bildern per se befasst, als auch in der Kunstgeschichte selbst. „Ich bin der erste Jude, der sich wünscht, eine neue jüdische Kunst zu entfesseln“, sagt Kitaj von sich. Nicht als Genremaler wie Marc Chagall, der jüdisches Leben porträtiert, Rabbiner, religiöse Rituale, sondern mit einem intellektuellen Zugang. Walter Benjamin, Sigmund Freud, Hannah Arendt stehen ihm Pate für eine jüdische Identität, in der Modernität und Diaspora verschmelzen.
So entreißt das Jüdische Museum nicht nur einen Maler, der zu den Wegbereitern der Pop-Art in Großbritannien gehörte, dem Vergessen, zumal in Deutschland, sondern entdeckt in ihm einen großen jüdischen Künstler. Kurator Eckhart Gillen verbrachte Wochen im Archiv seines „Gelben Ateliers“ in Los Angeles, studierte Briefe, Bilder, Textquellen des erklärten Büchernarrs, verknüpfte Skizzen auf Papierservietten mit den endgültigen Werken und eröffnet damit eine neue Sicht auf den komplizierten Maler.
Erst Anfang der Siebziger nach der Lektüre von Hannah Arendt begann sich Kitaj mit seinem „Jiddischsein“, wie er es nannte, zu befassen und suchte fortan manisch nach Wegen, dies auch in seine Kunst zu übertragen. Auch das Jüdische Museum macht mit „Obsessionen“, so der programmatische Ausstellungstitel, einen neuen Schritt. Nachdem es sich zum zehnjährigen Bestehen als Jubiläumsschau mit „Heimatkunde“ eine reine Kunstausstellung schenkte, widmet es sich nun erstmals einem Einzelkünstler.
Dass sich Kitajs Bilderkosmos nicht jedem erschließt, nahm der Maler in Kauf. Dass mancher Betrachter den didaktischen Ansatz ablehnen würde, wollte er jedoch nicht akzeptieren. Die 1994 von ihm eingerichtete Retrospektive in der Londoner Tate Gallery wurde zum persönlichen Desaster. Die Kritik verübelte dem Künstler den pädagogischen Impetus, dass er die Deutungshoheit über seine Bilder behalten wollte. Kitaj, der Amerikaner in Großbritannien, zog sich enttäuscht in seine Heimat zurück, ging für die letzten zehn Jahre nach Los Angeles, fühlte sich missverstanden und fremd.
Künstlerisch aber interpretierte er den antisemitischen Topos des heimatlosen Juden gewinnbringend für sich um. So entdeckt man in der mit 130 Gemälden, Druckgrafiken und Zeichnungen überreichen Retrospektive im fünften Jahr nach dem Tod des Künstlers immer wieder das Motiv des Passagiers – Menschen in Wartesälen, auf Abruf. 1984/85 malt er „Den jüdischen Reiter“ in Gestalt eines Zugreisenden, der an einer kargen Landschaft mit Schornstein und Kreuz vorüberfährt. Zu dem Bild inspirierte ihn nicht nur Rembrandts „Polnischer Reiter“, dessen Haltung er für den von ihm Porträtierten übernimmt, sondern auch eine Reisereportage über die Landschaft auf dem Weg von Budapest nach Auschwitz. Als Schaffner kommt vom Gang ein Zirkusdompteur herbei, der mit der Peitsche knallt.
Die Ausstellung hat einen überzeugenden Weg gefunden, Kitaj als Maler und Intellektuellen gleichberechtigt nebeneinander zu zeigen. Die Text- und Bildbezüge finden sich in den Museumsräumen auf Caféhaustischen, an die sich der Besucher zur Lektüre setzen kann, wie Kitaj es selber mit Vorliebe tat. Er kann sich die Kommentare des Künstlers per Audioguide anhören. Oder sich einfach seiner wuchernden, opulenten Bildwelt überlassen, in der sich die Bedrängnisse auch ohne genauere Kenntnisse mitteilen.
Die Obsessionen des regelmäßigen Bordellgängers Kitaj galten nicht nur Bildern und Büchern sowie der Suche nach einem spezifisch jüdischen künstlerischen Ausdruck, sondern auch den Frauen. Selbst der Moment des größten Glücks, die Hochzeit mit der jungen Malerin Sandra Fischer, die er zehn Jahre später malte, wirkt überschattet, überladen. Den frühen Tod seiner Frau nach dem Tate-Debakel sollte Kitaj nicht verwinden. Retrospektiv erweist sich: In seinen Bildern ist die Zukunft schon eingeschrieben.
Jüdisches Museum, Lindenstr. 9 – 14, bis 27. 1.2013; Katalog (Kerber) 34 €.
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