"Als wir träumten" auf der Berlinale: Die Jugend von damals
Wild gemeint und leider ein bisschen artig ausgefallen: Andreas Dresens „Als wir träumten“ im Berlinale-Wettbewerb. An der Buchvorlage liegt es nicht.
„Wo soll’s ’n hingehen?“ Gute Frage, die der Taxifahrer da dem Dani (Merlin Rose) stellt. Rico (Julius Nitschkoff) hat sich gerade nach dem Sparkassen-Bruch der Polizei gestellt, aber vorher dem ewigen Dani-Schwarm Sternchen (Ruby O. Fee) auf der Damentoilette des Stripschuppens noch ein bisschen Koks verpasst. Pitbull (Marcel Heuperman) ist Dealer, und Mark (Joel Basman), Pitbulls treuer Kunde, hat sich vor Kurzem totgefixt. Und der kleine Paul (Frederic Haselon) mit der viel zu großen Brille? Macht sich irgendwie dünne.
So sieht sie aus, die Welt der fünf ziemlich besten Kumpels aus Leipzig, einigermaßen jungerwachsen inzwischen auch ein paar Jahre nach der Wende: reichlich düster auch äußerlich, in geradezu magersüchtig entsättigten Farben. Da war es vielleicht nicht besser, aber sonniger in der späten DDR, die Andreas Dresen in Rückblenden mit fast neckischem „Good Bye, Lenin!“-Kolorit überschminkt. Damals waren die Jungs aus Leipzig so um die 13 und lagen bei Zivilverteidigungsübungen zur Stärkung der Wehrhaftigkeit des Sozialismus mit Kopf- oder Bauchschuss im Schultreppenhaus. Und mit dem Mauerfall kam die Mikrowelle, und da konnte man reinglotzen wie ins Fernsehen, bis das rohe Ei da drin platzt.
Andreas Dresen und der kurze Winter der Anarchie
Am meisten aber interessiert sich Andreas Dresen in „Als wir träumten“ für die Zeit, als sie alle so um die 17 waren. Die alte Welt mausetot, die andere noch reichlich hilflos neugeboren, also konnte man da schöne Sachen machen: aus dem Konsum massenweise Bier und Schnäpse wegschleppen, Autos knacken oder auch zerkloppen, als jüngste Discobetreiber von Neudeutsch-Mittelsüdost den Club „Eastside“ eröffnen. Und mit dem Tanzen an der Stange hat Sternchen ja auch erst später angefangen – das war nach den Nazis, die Rico so schön die „Hautköpfe“ nannte. Nur leider waren die schon früh in der Überzahl, und aus war der kurze Winter der Anarchie.
Ein toller Stoff, möchte man meinen, dieser Film nach dem gleichnamigen Roman, den der in Leipzig aufgewachsene Clemens Meyer 2006 mit Ende zwanzig schrieb. Ganz viel Vordergrund und immer ordentlich was los. Bei zugegeben zügiger Lektüre des vielhundertseitigen Buchs fällt – als sogenannte analytische Ebene – nur ein programmatischer Absatz auf Seite 14 ins Auge: „Es gibt keine Nacht, in der ich nicht von alldem träume, und jeden Tag tanzen die Erinnerungen in meinem Kopf, und ich quäle mich mit der Frage, warum das alles so gekommen ist. Sicher, wir hatten eine Menge Spaß damals, und doch war bei dem, was wir taten, eine Art Verlorenheit in uns, die ich schwer erklären kann.“
Fans von Clemens Meyer nicht verärgern
Diese Verlorenheit trifft Dresen durchaus, zusammen mit dem 83-jährigen Wolfgang Kohlhaase, der ihm nach „Sommer vorm Balkon“ (2006) und „Whisky mit Wodka“ (2009) nun das dritte Drehbuch schrieb. Ja, er bebildert sie in wie immer sorgfältig ausgearbeiteten teils zarten, teils harten Szenen mit stets fühlbarem Beweisführungsimpuls, und zugleich stellt sich nach der zweiten Zerstörungsorgie, der dritten Sufffahrt im kurzgeschlossenen Auto durch nächtlich leere Leipziger Straßen und der vierten Prügelei mit den immer brutaler werdenden Glatzen etwas verblüffend Dresen-Fremdes ein: eine Art meditativer Langeweile trotz dröhnender Beats und reichlich Stroboskopgeflimmer – wie die überlange und irgendwann merkwürdig langsam austrudelnde Fahrt in einem fraglos gut geölten Karussell.
Woran liegt’s? Daran, dass Dresen, wenn er denn die Clemens-Meyer-Fans nicht verärgern will, ebenso wie der Romanautor kaum von den Oberflächenreizen wegkommt? Daran, dass dieser Vielgenerationenfilm – mit Kohlhaase als Senior, dem 51-jährigen Dresen, dem 37-jährigen Meyer und den tollen Schauspielern allesamt um die zwanzig – es letztlich artig irgendwie allen recht zu machen sucht? Oder am offenbar unbedingten Initialwillen des 59-jährigen Produzenten Peter Rommel, es mit diesem Stoff und seinem ihm seit vielen gemeinsamen Filmen verbundenen Freund Andreas Dresen richtig krachen zu lassen?
Peter Rommel schwärmt von der eigenen Jugend
Im so freimütigen wie umfänglichen Interview, das die beiden dem Presseheft mitgegeben haben, schwärmt Rommel, ganz in der seligen Erinnerung an die eigene Jugend („geprägt von Drogen, Gewalt und Blödsinn“) von der Lust auf einen „räudigen“ Film – und schiebt zudem einen etwas altfränkisch tönenden pädagogischen Impuls nach: Er habe „die Hoffnung, der jüngeren Generation heute eine Vision der inneren Kraft mitzugeben“ und sei „gespannt, ob sie unsere Anregung annehmen“ wird. Andreas Dresen artikuliert verhaltener. Ja, er habe sich auch in den anarchischen Roman „verguckt“, und da wolle er als Regisseur auch mal „ein wenig anarchisch erzählen“.
„Ein wenig anarchisch“? Das klingt wie: „ein bisschen schwanger“. Schon diese spürbare Distanz lässt die Vermutung keimen, dass Dresen bei aller überragenden Begabung der falsche Regisseur für diesen Stoff war. Seine stille und durchaus anarchische Radikalität steckt in der Erfindung eigener Extremgeschichten, sei es die schmerzhafte Geschichte einer späten Liebe in „Wolke 9“ oder sein Krebsdrama „Halt auf freier Strecke“, womit er den Deutschen Filmpreis geholt hat. Seine Kohlhaase-Stoffe bisher waren niveauvolle, letztlich aber gefällige Komödien. „Als wir träumten“ aber will mehr sein, Epochenstudie und Generationenporträt, und schlingert stattdessen zwischen gutem, altem Jugendfilm und seltsamen Ausflügen ins Theatralische hin und her.
Oskar Roehler wollte die Berlinale nicht
Wo soll’s hingehen mit den deutschen Wettbewerbsbeiträgen auf dieser Berlinale, von den international eingefärbten Werken der Altmeister Herzog und Wenders abgesehen? Haben die beiden Regisseure, die vor der Kamera Buddy-Gruppen der nächst- oder übernächstjüngeren Generation versammeln, mehr zu bieten als die letztlich romantisierende Auspinselung eigener Jugendreminiszenz? Sebastian Schipper, 46, hat in „Victoria“ sein Jungsquartett erst ratlos in ein eher ödes Realzeitexperiment und dann entschieden in die Genre-Kopie gejagt – und über den allseits bejubelten „Boah ey!“-Effekt hinaus, wonach die 140 Minuten ohne Schnitt gedreht worden seien, sogar noch deutlich weniger als Andreas Dresen mitzuteilen.
Bei so viel gemeinschaftlicher Erinnerung an die guten, alten, wilden Jugendzeiten hätte „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“ eigentlich bestens ins Berlinale-Progamm gepasst. Der neue Film von Oskar Roehler, der weder bloß formverliebt noch überwiegend inhaltsgediegen vom West-Berlin der achtziger Jahre erzählt, von Blixa Bargeld und Nick Cave, von Peepshows und schauerlich überhellen zugesprayten Wodka-Bars, ist tatsächlich radikal und „räudig“, mit einem famosen Tom Schilling in der Hauptrolle. Allein, die Berlinale wollte ihn nicht. Ganz entschieden nicht.
Ein bisschen merkwürdig mutet das schon an, zumal das Festival etwa in der stets opulent bestückten Panorama-Nebenreihe in Sachen „guter Geschmack“ traditionell weite Wege geht. Und gäbe es ein Duell der Presseheft-Interviews, einen Stare Down wie beim Boxen, dann würde Roehler ihn locker für sich entscheiden. Die Jugend von heute etwa findet er „gleichzeitig genormt und sehr intelligent“. Wobei: „Die wissen viel zu viel. Wenn ich so zurückdenke: Wir wussten nichts! Und das war eigentlich nicht schlecht.“ Mit anderen Worten: Der Mann weiß, wovon er redet, und das merkt man dann auch.
10.2., 12 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 21:30 Uhr (Kino Union), 12.2., 19 Uhr (Haus der Berliner Festspiele)