Berlinale 2019: Die Forum-Filme im Überblick
Das Forum bricht eine Lanze für die analogen Dinge – und betreibt archäologische Erkundungen der DDR.
Der Mensch bewegt täglich 156 Millionen Tonnen Erde. Trägt Berge ab, gräbt Tunnel rein, schneidet Marmorblöcke heraus, sprengt, wühlt, schichtet um, für Kohle, Kupfer und Ölsand. Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm "Erde" erkundet sieben Orte, an denen wir buchstäblich den Boden unter unseren Füßen zerstören. Nicht wenige der 39 Forum-Beiträge (davon 31 Weltpremieren) richten den Fokus auf Landschaften und darauf, wie der Mensch sich darin bewegt. In "Cháo" (Landless)" halten Landarbeiter in Brasilien ein Grundstück besetzt: Proteste von unten, lange bevor der Rechtspopulist Bolsonaro an die Macht kam. "Olanda" begleitet Pilzsucher in den Karpaten. In "Bait" kämpfen Fischer und Touristen um das Sagen in einem Küstendorf in Cornwall: schwarzweiß, 16 Millimeter, von Hand entwickelt – die Gegenwart in Gestalt eines historischen Dokuments. Und "The Last To See Them" begleitet eine Olivenbauern-Familie am letzten Tag ihres Lebens: die schrundige, süditalienische Felsregion und die sich windende Straße werden zur Metapher von Zeit und Vergänglichkeit.
Vergangen ist auch die DDR. Allmählich beginnt das Kino, ihre Geister zu beschwören. Einer der wichtigsten Filme des 49. Forums ist Thomas Heises dreieinhalbstündige Erkundung seiner eigenen Familie, über vier Generationen: "Heimat ist ein Raum aus Zeit". Eine gewitzte, burleske Studie ist die 67-minütige Doku "Fortschritt im Tal der Ahnungslosen". Syrische Flüchtlinge treffen im verfallenen Kombinat „Fortschritt“ auf ehemalige Fabrikarbeiter. Zwei Arten von Heimatlosen, gemeinsam reinszenieren sie Realsozialismus und Krieg – und Assad fährt mit Honecker huldvoll winkend durch die Stadt. Heimat ist auch in "Die Kinder der Toten" Thema: Das berühmt-berüchtigte Nature Theatre of Oklahoma hat Elfriede Jelineks Gespensterroman mit 80 Laien in der Steiermark in Szene gesetzt.
Dem Team um die Arsenal-Chefinnen Milena Gregor, Birgit Kohler und Stefanie Schulte Strathaus – sie programmieren das Forum interimistisch nach dem Weggang des langjährigen Leiters Christoph Terhechte – fiel auf, wie häufig Bücher eine Rolle spielen. Nicht nur in Literaturverfilmungen, dem farbentrunkenen Kostümfilm "A portuguesa" nach Musils Novelle (mit Ingrid Caven als Minnesängerin!), der Rosa-Luxemburg-Hommage "Une rose ouverte/Warda oder So Pretty", eine Adaption von Ronald M. Schernikaus „So schön“. Sondern buchstäblich: Das Buch als Objekt wird ins Bild gesetzt, das Sinnliche, Haptische analoger Schriftstücke, von Briefen, Dokumenten, Tagebüchern. Einbände werden beäugt, Seiten aufgeschlagen, "MS Slavic 7" aus Polen trägt eine Bibliothekssignatur im Titel, und in "The Plagiarists" aus den USA taucht Karl Ove Knausgårds „Min Kamp“-Saga auf, während ein Paar sich darüber streitet, was besser ist, Bücher oder Filme.
Hinzu kommen Special Screenings, das Motto: „Archival Constellations“. Filmhistorie wird an die Gegenwart angedockt. Besonders spannend: ein aktuelles Porträt der Schauspielerin Delphine Seyrig und der Regisseurin Carole Roussopoulos, die sich mit Videos einst in der Frauenbewegung engagierten. Darin taucht die Doku "Sois belle et tais-toi!" (Sei schön und halt’ den Mund!) von 1976 auf, die das Forum jetzt wieder zeigt. Seyrig befragte 24 französische und US-Schauspielerinnen nach ihren Berufserfahrungen. MeToo, struktureller Machtmissbrauch, alles schon da, nur ohne Folgen...
Das „Forum Expanded“ schlägt seine Zelte im Silent Green auf. Nicht mehr die Akademie der Künste, sondern die 1600 Quadratmeter große unterirdische Betonhalle des Kunstquartiers im Wedding beherbergt die Gruppenausstellung, u.a. mit Arbeiten von Catherine Sullivan, Clarissa Thieme und James Benning. Eröffnung ist schon am 6. 2. Wer es während der wilden Festivaltage nicht schafft, kann auch später kommen, die Schau läuft bis 9. März.
Unter dem Titel Antikino (The Siren’s Echo Chamber ) wird das veränderte Verhältnis von Bild und Leben befragt. In 30 Filmen, 17 Installationen und einer Performance von Ute Waldhausen geht es um Migration, Entwurzelung und Kolonialgeschichte. Alle Expanded-Filme (plus ausgewählte Forums-Beiträge) sind in der Kuppelhalle des Silent Green zu sehen, darunter Robert Schlichts "Labour Power Plant", eine Dystopie über den künftigen Menschen im „Arbeitskraftwerk“, ein Anti-Porträt des einstigen Schlagerstars Ricky Shayne und das wohl ziemlich verrückte Werk "DADDA – Poodle House Saloon" von Paul und Damon McCarthy: ein Horror-Western mit Donald und Daisy Duck, Nancy Reagan, Andy Warhol, John Wayne und Heidi.
Die Leserjury des Tagesspiegels kürt zum 13. Mal den besten Film unter den Weltpremieren des Forums: 31 Filme in 9 Tagen, darunter XXL-Längen – Fitness für die Augen. Den Marathon begleiten wir mit täglichen Kurzporträts der 9 Jury-Mitglieder. Der Siegerfilm wird am 17.2., dem Publikumstag, nochmals präsentiert, um 19.30 Uhr im Cinemaxx 4. Tickets sind ab Montag, den 4.2., erhältlich.
Christiane Peitz