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Eine Karikatur aus dem Jahr 1846 spießt Hector Berlioz beim Dirigieren seiner Werke auf.
© imago/Leemage

„Der Klang von Paris“: Die aufregendste Metropole des 19. Jahrhunderts

Musikalisch-literarische Tour de Force: Volker Hagedorn führt in seinem Buch „Der Klang von Paris“ durch Frankreichs Hauptstadt vor gut 150 Jahren.

In der Opéra waren sie immer ganz vorne dran. Acht Jahre bevor die erste Pariser Straße mit Gaslaternen bestückt wurde, konnte man das neue Beleuchtungssystem bereits im Musiktheater bewundern. Und lange, bevor Nadar die Fotografie gesellschaftsfähig machte, wurde auf der dortigen Bühne bereits Blitzlicht eingesetzt, erzeugt durch Lycopodium, das aus den Sporen des Bärlapp hergestellt wird.

Paris ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kulturhauptstadt der Welt und die Pariser Oper ein Sehnsuchtsort der Künstler wie der Fans des Genres – dabei gibt es das pompöse Palais Garnier noch gar nicht, das heute als Sinnbild der Belle Epoque die Stadtmitte dominiert. Es wird erst 1875 eröffnet werden. In der Zeit, die Volker Hagedorn in seinem Buch „Der Klang von Paris“ beschreibt, hat die teuerste, aufwändigste Form aller darstellenden Künste ihr 2000-Plätze-Domizil noch in der Salle Le Peletier.

Dorthin zieht es 1821 auch den jungen Hector Berlioz kurz nach seiner Ankunft aus der Provinz. Vier Tage und vier Nächte hat der 22-Jährige in einer Kutsche verbracht, um von Lyon in die Hauptstadt zu gelangen. 1867, als er den Tod seines Sohnes Louis zu beklagen hat, wird er mit der Bahn dieselbe Strecke in 11 Stunden zurücklegen können.

Es ist enorm, was Hagedorn alles zusammengetragen hat

Zwei Wendepunkte im Leben des Komponisten markieren den Anfangs- und den Endpunkt dieser „Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts“, wie Hagedorns Buch im Untertitel heißt. Tatsächlich allerdings geht es in dieser außergewöhnlichen Publikation um mehr als nur die Tonkunst.

Volker Hagedorn entwirft ein komplettes Gesellschaftspanorama – und zwar in der Form einer Doku-Fiktion. Ständig wechselt er die Perspektive, webt bewusst literarische Elemente ein in die historische Chronik, „fiktionale Nahaufnahmen, Dialoge, die sich aus Quellen speisen, Collagen aus Briefen, Zeitungen, Prosa“, wie er im Nachwort schreibt. Und er schlüpft auch immer wieder in die Rolle des Journalisten, der durch das Paris von heute streift und dabei quasi „live“ von seinen Eindrücken und Erlebnissen berichtet. Alles mit dem Ziel, „den Protagonisten nah zu kommen“.

Und es ist wirklich enorm, was Hagedorn alles zusammengetragen hat: Er orchestriert seine Erzählung wie eine Partitur, hat alle Zahlen parat, zitiert Passagen aus Romanen, weiß stets, wie das Wetter war und wer warum gerade welche Falte im Gehrock hatte. Er kennt sich sogar aus in den Speisekarten der gehobenen Gastronomie. Hagedorn schreibt dabei so oft wie möglich im Präsens, um mittendrin zu sein statt nur dabei. Das macht die Lektüre nicht nur für Opernfans interessant, sondern für jeden, der Lust hat, in die Atmosphäre der Zeit einzutauchen.

Alle kommen sie bei Hagedorn vor, die französischen Komponisten, Sängerstars und Musikmanager, wie auch die zahllosen zugereisten Künstler, die das Kulturleben der Metropole bereichern, von Rossini über Ferdinand Hiller bis hin zu Meyerbeer, Offenbach und dem jungen Richard Wagner. Victor Hugo und Georges Sand, Heine, Dumas und Baudelaire kommen zu Wort, die Analysen wichtiger Gemälde von Eugène Delacroix und Edouard Manet sind fast so ausufernd wie die Werkbeschreibungen von Schlüsselkompositionen der Zeit.

Gerne wird Volker Hagedorn euphorisch-poetisch, wenn es um Details der Partituren geht, einen Absatz weiter verfällt er dann wieder in einen nüchternen Lokalreporter-Stil, wenn er in die Gegenwart gesprungen ist und berichtet, wie er bei wildfremden Parisern klingelt, die in dem Dachstübchen wohnen, wo Hector Berlioz einst seine „Symphonie fantastique“ komponiert hat.

Auswüchse des entfesselten Kapitalismus in der Boomtown

Berlioz ist Hagedorns Kronzeuge – und ein Seelenverwandter. Denn so, wie der Komponist zugleich ein scharfzüngiger Rezensent war, arbeitet auch der Autor des Buches dual, als aktiver Musiker an der Bratsche wie eben als Musikkritiker. Mit der Ausdauer des glühenden Fans klappert er alle Orte ab, an denen Berlioz in Paris gelebt, geliebt und gelitten hat, um schlussendlich zu dem Ergebnis zu kommen: „Berlioz wird gut versteckt in Paris. Auch ins Panthéon hat er es nicht geschafft. Aber dort liegt ohnehin kein einziger Musikantenknochen.“

Komponisten waren im 19. Jahrhundert wichtig – um jene Vergnügungsstätten am Laufen zu halten, wo sich die Schönen und Mächtigen selbst inszenierten. Immer wieder prangert Hagedorn die Auswüchse des entfesselten Kapitalismus in dieser Boomtown an, berichtet von der Armut, in der große Teile der Bevölkerung leben. Ihr Unmut entlädt sich in der Juli-Revolution des Jahres 1830, just, während Hector Berlioz, der größte Umstürzler der französischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, im Institut de France kaserniert ist, um mit anderen jungen Komponisten Kantate für den begehrten Rom-Preis des Conservatoire de Paris zu schreiben.

Eine Lektüre, so anstrengend wie Paris im 19. Jahrhundert

Volker Hagedorn gelingt das Kunststück, den Leser in jenen Gefühlstaumel zu versetzen, in dem sich die Pariser vor gut 150 Jahren befanden: Eine gewaltige Flut von Eindrücken prasselt unablässig auf das Individuum ein.

Für die Bewohner der Seine-Metropole waren die vor allem mit der Beschleunigung des täglichen Lebens verbunden, mit der Eisenbahn und der Telegrafie, mit dem Gaslicht, der (Ballon-) Luftfahrt und der Fotografie. Für den Leser von heute wiederum stellen sich die Schwindelgefühle dadurch ein, dass Hagedorn alles gleichzeitig reflektiert, was in dieser Zeit passiert, Politik, gesellschaftliche Strömungen, technische Neuerungen und Avantgardebestrebungen in allen Künsten. Das macht die Lektüre enorm ertragreich, aber auch anstrengend. So anstrengend, wie das Leben in Paris Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen sein muss.

Am 14. April um 17 Uhr findet ein musikalisch-literarischer Salon zum Buch in der Villa Elisabeth in der Invalidenstraße in Mitte statt.

Volker Hagedorn: „Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts“, Rowohlt 2019, 410 Seiten, 25 Euro.

Frederik Hanssen

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