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Die Geschichte: Wie Paris zur Weltstadt wurde

Es ist die Zeit des großen Wandels. 1852 wird Baron Haussmann Präfekt von Paris – er lässt Slums abreißen, die Bourgeoisie zieht ein. Bisher dokumentieren Maler das Leben der Stadt, nun bekommen sie Konkurrenz: die Fotografen.

Am Ende rast der Zug führerlos dahin, nachdem die beiden Männer in tödlichem Zweikampf von ihrer Lokomotive gestürzt sind, mit 18 Wagen voller Soldaten, die der Front entgegeneilen. „Was bedeuten schon die Opfer, die die Maschine auf dem Weg zermalmt hat! Fuhr sie nicht dennoch in die Zukunft, unbekümmert um das verschüttete Blut? Sie rollte, sie rollte.“

So endet der Roman „La bête humaine“, „Die Bestie Mensch“, von Émile Zola, erschienen 1890. Die Eisenbahn hat darin die Hauptrolle, als Schauplatz fürchterlicher Geschehnisse, aber ebenso als Metapher menschlicher Triebe. Es ist das goldene Zeitalter der Eisenbahn, und insbesondere die Route, auf der Zola die Handlung spielen lässt, hat für Paris enorme Bedeutung: die Strecke vom Bahnhof Saint-Lazare aus. Schrittweise war sie ausgebaut worden, seit 1837 zu den nahen Vororten im Westen, später die Seine entlang bis zur Küste. Der Bahnhof Saint-Lazare bedeutete Freizeit, Sommerfrische, Ausbruch aus der lärmenden Großstadt.

Zugleich aber steht dieser Bahnhof für den radikalen Umbau, den Baron Haussmann, der Präfekt von Paris zu Zeiten des selbsternannten Kaisers Napoleon III., der französischen Hauptstadt verordnete. Noch war Louis-Napoléon „nur“ Präsident, als er Georges-Eugène Haussmann im kalten Januar 1849 zum ersten Mal im Élysée-Palast empfing, der von den Verwüstungen der 48er-Revolution gezeichnet war. Doch der künftige Kaiser erkannte in dem fähigen Provinzpräfekten genau den Mann, den er suchte: den Planer seiner monumentalen Hauptstadt.

Das Viertel um den Bahnhof Saint-Lazare ist ein Musterbeispiel der „Haussmanisation“, der nicht nur urbanen und architektonischen, sondern zugleich auch der sozialen Umgestaltung von Paris. 1852 zum Präfekten des Départements Seine – also von Paris – ernannt, fand er eine in ihrer Struktur mittelalterliche Stadt vor, die an den Rändern in wilde Siedlungen, teils gar in Slums auslief. So auch um den Bahnhof Saint-Lazare. Westlich von ihm lag eine Gegend, die den bezeichnenden Namen „Klein-Polen“ trug, mehr oder minder eine Barackensiedlung von polnischen Immigranten. Die Bewohner ließ Haussmann vertreiben, das hügelige Gelände planieren, mit dem Lineal gezogene Straßen ziehen, die sich in spitzen Winkeln kreuzen.

Die Place de l’Europe, ein schon vor Haussmann angelegter Platz, wurde nun zu einer gewagten Brückenkonstruktion über den Gleisen des Bahnhofsvorfelds, auf die die Straßen sternförmig zulaufen. Doch erst die Weltausstellung von 1867 brachte einen ungeheuren Aufschwung der Bautätigkeit mit sich. In rascher Folge wurden bis in die 1870er Jahre hinein die fünfstöckigen Wohnhäuser hochgezogen, die dem neuen Stadtquartier ihr Gesicht geben. Diese neoklassischen Häuser mit ihren tiefgezogenen „Pariser“ Fenstern, schmiedeeisernen Balkonbrüstungen und maximaler Firsthöhe von 35 Metern bestimmen unverändert das Bild der Stadt. Nach Haussmanns Rezepten entstand das Paris, wie alle Welt es heute kennt.

Haussmanns Politik der Enteignung und Vertreibung blieb, trotz kaiserlicher Protektion, mitnichten unangefochten. Jules Ferry, später Ministerpräsident der III. Republik, griff den Baron 1868 in einem Artikel unter dem bezeichnenden Titel „Haussmanns Erzählungen“ – nach dem populären Operettentitel Jacques Offenbachs – an: „Man sehe die Gewalt, die er seit 15 Jahren ausübt, eine Verwaltung ohne Kontrolle, eine Macht ohne Verantwortung, ein einziger Mann gestärkt von einem nicht gewählten Stadtrat! Hat man dergleichen irgendwo, irgendwann jemals gesehen?“ Haussmann hingegen amüsierte sich über seine Gegner und ihre „kollektiven Klagen, während jeder Einzelne die Enteignung als Einkommensquelle herbeiwünscht“.

In das neue Quartier de l’Europe zogen die Verfechter des „modernen Lebens“, voran die Maler des Impressionismus, Edouard Manet, Claude Monet und Gustave Caillebotte, aber auch der Dichter Stéphane Mallarmé und der Romancier Maxime du Camp. Und natürlich hat Zolas Romanheld Jacques Lantier hier sein fiktives Zuhause. Die Kehrseite des Haussmann’schen Stadtumbaus sind die Enteignungen und Abrisse zahlloser Häuser, die beinahe gewaltsame Vertreibung ihrer Mieter, der „kleinen Leute“, und die Inbesitznahme der inneren Stadt durch die neureiche Bourgeoisie. Die heutige „Gentrification“ ist dagegen ausgesprochen harmlos.

Haussmanns Planungen blieben nach seinem Rücktritt 1870 auch für die nachfolgende Dritte Republik bestimmend. Das „Quartier de l’Europe“, nunmehr ganz und gar innerstädtisch, wurde zum bevorzugten Wohnort des gehobenen Bürgertums. Große Wohnungen in den typischen neoklassischen Häusern, dazu die Eisenbahn für den Sonntagsausflug an die Seine: Das ist das Leben der neuen Mittelklasse, das die Impressionisten in ihren Bildern festhielten.

Aber sie malten durchaus nicht nur das Freizeitvergnügen der wohlhabenderen Schichten, denen sie wie Caillebotte selbst zugehörten oder zumindest, wie Manet oder Monet, ihre Käufer verdankten. Tatsächlich waren die Impressionisten nicht nur die Maler von Licht und Farbe, sondern genaue Beobachter einer Stadt in ungezügeltem Wachstum und Wandel. Nur dass sie ihre subjektiven Beobachtungen festhielten.

Denn es gab neben der Malerei und in zunehmender Konkurrenz zu ihr: die Fotografie. Das Museum Folkwang in Essen, dank finanzstarker Sponsoren zu großen Vorhaben in der Lage, hat nun Gemälde und Fotografien zusammengeführt: Unter dem Titel „Bilder einer Metropole. Die Impressionisten in Paris“ ist noch bis zum 30. Januar eine Ausstellung zu sehen, die erstmals Gemälde und zeitgleiche Fotografien zum Thema Paris gleichberechtigt zusammenführt (Katalog Edition Folkwang/Steidl, 38 Euro).

Wohl keine Stadt des 19. Jahrhunderts ist so ausgiebig und planvoll fotografiert worden wie Paris. So wie der Impressionismus nur als Gegensatz zur akademischen Malerei seiner Zeit verstanden werden kann, die im alljährlichen „Salon“ einem Millionenpublikum vorgeführt wurde, so lässt sich die Verwandlung von Paris nur in der Fotografie erfassen, und zwar im Gegensatz zur Malerei. Die unbeirrbare Genauigkeit, mit der die damaligen, mühsam zu handhabenden Plattenkameras jedes Detail aufzeichneten, ließ die Möglichkeiten der bis dahin zur Wirklichkeitsaufzeichnung unangefochtenen Malerei weit hinter sich.

Vor allem die großen Einzelvorhaben der „Haussmannisation“, der Bau der prachtvollen Oper, der eisernen Markthallen, der Börse und der Bahnhöfe, wurden Gegenstand der Arbeit zahlreicher hochprofessioneller Fotografen. So hat Louis-Emile Durandelle den Bahnhof Saint-Lazare 1885 aufgenommen, kurz nach dessen fünfter (!) Erweiterung innerhalb eines halben Jahrhunderts. In der Empfangshalle stehen und laufen einige wenige Passagiere und auch Flaneure herum, während eiligere Fahrgäste aufgrund der – noch – erforderlichen Dauer der Belichtung allenfalls als Schemen zu erahnen sind. Oder Charles Marvilles Fotografien der Zentralmarkthallen, der ab 1852 errichteten berühmten „Halles“, mit denen ein äußerst unhygienisches Viertel wortwörtlich „saniert“ wurde. Auch diese sozialpolitische Maßnahme ist typisch für den Baron Haussmann. Zola hat den Hallen in seinem Roman „Der Bauch von Paris“ bereits 1873 ein literarisches Denkmal gesetzt.

Auch der Pont de l’Europe wurde aus eisernen Trägern zusammengesetzt, dieses Straßenkreuz quer über den Bahngleisen. Manet konnte von seinem Atelier aus auf die Brücke schauen. Und hier malte er 1874 auch sein rätselhaftes Meisterwerk, lakonisch „Die Eisenbahn“ betitelt, obwohl der Eisenbahnbetrieb selbst gar nicht zu sehen ist. Zu sehen sind eine junge Frau, modisch zurechtgemacht, und ein kleines Mädchen; möglicherweise eine Tochter aus höherem Hause mit ihrer Kinderfrau. Nur am weißen Rauch, der hinter einem eisernen Gitter aufsteigt, ist die Eisenbahn tief unten zu erahnen.

Manets radikal subjektive Sicht ist das glatte Gegenteil der objektiven Beobachtung der Fotografie. Die Kamera hält alles fest, von einer Ecke der Aufnahme bis zur anderen, während der Maler auslässt, was immer ihm überflüssig erscheint. Manets Gemälde macht deutlich, dass es einen vollständigen Überblick für den Einzelnen nicht geben kann, sondern nur noch den jeweils individuellen Ausschnitt aus der unendlichen Wirklichkeit. Die jedoch ist unwiderruflich zur Domäne der Fotografie geworden. Malerei und Fotografie gehen getrennte Wege: Während sich die Malerei bald sogar über die Farbflecktechnik des Impressionismus hinaus entwickelt und nach der Jahrhundertwende die Abstraktion entdeckt, wird die Fotografie dank verbesserter Technik zum einzigen Medium, um die sichtbare Wirklichkeit festzuhalten und in einen einzigen Augenblick zu bannen.

„Unsere Künstler müssen die Poesie der Bahnhöfe entdecken, so wie ihre Väter die der Flüsse und Wälder gefunden haben“, schrieb Zola anlässlich der Ausstellung der Impressionisten von 1877. Sie wurde in eigens gemieteten Räumen um die Ecke vom Boulevard Haussmann gezeigt, dem Zentrum der Planung des früheren Präfekten. Gustave Caillebotte, der die Ausstellung dank seiner finanziellen Unabhängigkeit organisierte, gab ihr mit zwei großformatigen Gemälden den unbestrittenen Mittelpunkt.

Caillebotte hat seine Gemälde sorgfältig konstruiert. Im Vergleich mit der Entwicklung der Fotografie seiner Zeit wird deutlich, dass er sich zumindest eines fotografischen Blicks bediente, wenn nicht gar Fotografien als Vorlagen benutzte. Sein Meisterwerk der Brücke über der Eisenbahn, „Le Pont de l’Europe“ von 1876, zeigt nicht nur die stählerne Brückenkonstruktion und mit ihr die technischen Errungenschaften der damaligen Zeit, sondern stellt zugleich ein Gesellschaftsporträt dar. Caillebotte arrangiert ein wohlangezogenes Paar, klar erkennbar Bewohner des neuen Stadtviertels, und rechts einen jungen Arbeiter in langer Bluse, der in Muße auf die Eisenbahn unter ihm blickt. Wenige Jahre nach der Niederlage Frankreichs gegen Preußen mag die Personnage des Bildes ein Hinweis auf die republikanische Politik der „Versöhnung der sozialen Klassen“ gewesen sein. Die Appartementhäuser im Hintergrund geben den städtischen Rahmen, sie unterstreichen den Gegensatz zum früheren, von Haussmann zur Beseitigung bestimmten Paris der Kleinbetriebe und Handwerker, aus denen sich nicht zuletzt die Aufständischen von 1789, 1830 und 1848 rekrutiert hatten.

Die zufällige Begegnung unterschiedlicher, anonym bleibender Menschen auf der Straße ist ein Signum der Modernität. In seinem wohl berühmtesten Werk, der „Straße in Paris bei Regenwetter” von 1877, legt Caillebotte die gesellschaftspolitische Zielrichtung der Haussmanisation frei. Der Blick des Malers, erneut wie mit einem Weitwinkelobjektiv gefasst, zeigt achtlos aneinander vorbeilaufende Passanten. Es gibt keine Geschichte, die Caillebotte dem Betrachter darbietet, es gibt nur noch den zufälligen Blick dessen, der seinerseits Passant oder Flaneur ist. Keine standesmäßige oder gar feudale Hierarchie wird mehr demonstriert, sondern die Gleichförmigkeit des erstarkten Bürgertums in seiner neugeschaffenen Umgebung. Was Caillebotte zugleich spüren lässt, ist Indifferenz als eine kennzeichnende Erscheinung der Moderne.

Solche Indifferenz ist gerade der Fotografie eigen. In den Aufnahmen Durandelles vom Bau der Kirche Sacré-Coeur – die bezeichnenderweise zugleich einen Wasserspeicher umfasst und verdeckt – oder in denjenigen anonymer Fotografen vom Bau der Métro um 1900 mögen die Arbeiter und Ingenieure zwar posieren, da sie den Fotografen mit seiner schweren Ausrüstung vor sich sehen. Auf den Bildern des großartigen Charles Marville ist davon jedoch nichts zu bemerken. Er nimmt in den Jahren bis zu seinem Tod 1879 die Fabriken und Gaswerke, die eine neue Barriere zwischen Stadt und Land aufrichten – über die sich wiederum der Bahnreisende hinwegsetzt – ebenso auf wie die Slums am Stadtrand, inmitten baumloser Ödnis, schon bedroht von den heranrückenden steinernen Neubauten. „Die Welt der Vorstädte zu beobachten heißt, eine Amphibienwelt zu beobachten“, schrieb Victor Hugo 1862 in „Die Elenden“: „Ende des Grases, Beginn des Pflasters, Ende der Ackerfurchen, Beginn der Läden …“ Doch das Paris der Handwerker und der Gassen, das Hugo beschreibt, war dem Untergang geweiht. Eine Generation nach Marville ist es Eugène Atget, der das beinahe schon ganz verschwundene vieux Paris festhält. Zum Gegenbild wird 1889 der Eiffelturm, dessen atemberaubende Konstruktion die Fotografie in allen Etappen festhält.

Die anonyme Masse wird zum Bildmotiv. Interessanterweise war es der Urpreuße Adolph Menzel, der als einer der Ersten die großstädtische Menge auf seinen Gemälden festhielt. 1867 weilte Menzel zum Besuch der Weltausstellung in Paris, nahm jedoch vom heranreifenden Impressionismus keinerlei Notiz. Wohl aber sah er die wimmelnde Menge und hielt sie wenig später auf dem Gemälde „Pariser Wochentag“ fest. Auch hier gibt es keinen Mittelpunkt mehr und keine histoire, keine Geschichte, wohl aber, wie stets bei Menzel, allerlei Anekdotisches. „Alles sehen und alles malen“, so lautete eine Forderung Émile Zolas: „Das Leben, so wie es in den Straßen vorüberzieht, das Leben der Armen und der Reichen, auf den Märkten, auf den Rennplätzen, auf den Boulevards …“

Einmal sieht man auf einem Gemälde Manets von 1878, das die von seinem Atelier aus einsehbare Rue Mosnier zeigt, einen Mann auf Krücken. Vielleicht ein Veteran des erst sieben Jahre zurückliegenden Kommune-Aufstandes? Im Medium der Fotografie ist diese furchtbare Episode mit ihren Brandschatzungen und Erschießungen lückenlos festgehalten, von den Barrikaden auf Haussmanns polizeitauglichen Boulevards bis zu den ausgebrannten Ruinen von Rathaus und Tuilerien-Palast – und nicht zuletzt den Opfern des Aufstands, aufgereiht und gestapelt in billigen Holzsärgen, wie sie der Fotograf André Disdéri verewigt hat.

„Il faut être de son temps“, man muss seiner Zeit angehören, lautete das künstlerische Bekenntnis Manets. Paris in seinem rasanten Wandel zwang die Künstler geradezu, ihrer Zeit anzugehören. Wie es der Dichter Charles Baudelaire bereits 1859 gefordert hatte, in seinem folgenreichen Essay „Der Maler des modernen Lebens“, wurde der Künstler zum Chronisten, ja zum Seismografen seiner Zeit. In Paris, das der gebürtige Berliner Walter Benjamin bezeichnete als „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“.

Bernhard Schulz

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