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Straßenszene aus Charkiw Ende der Sechziger - aufgenommen von Alexander Gurzhy.
© Alexander Gurzhy

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (21): Die alten und die neuen Bilder von Charkiw

Der ukrainische Autor und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Wie er von hier aus den Krieg in der Ukraine verfolgt, schreibt er in diesem Tagebuch.

12. April 2022
Mein Vater Alexander Gurzhy ist vor drei Jahren im Alter von 81 von uns gegangen. Er war vieles, unter anderem auch Chemiker, Songschreiber und Fotograf. Als wir 1995 nach Deutschland gezogen sind, haben wir einige seiner Fotoalben mitgenommen. Auch hier hat er noch ziemlich viel fotografiert.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Technologie verbessert, und er musste seine Filme nicht mehr selbst entwickeln. Das war eine große Erleichterung für ihn, glaube ich – denn ich erinnere mich, wie er sich früher abends für mehrere Stunden im Badezimmer einschloss, das er in eine Dunkelkammer verwandelt hatte. Im Deutschland der Neunziger brauchte man kein privates Fotolabor, es reichte, die Filme zu einer Drogerie zu bringen, und man konnte einen Tag später die Bilder abholen – ein Traum!

Plötzlich bekamen meine Kindheitserinnerungen Farbe

Viele meiner frühen Kindheitserinnerungen sind mit Fotos meines Vaters verknüpft, deswegen sind sie schwarz-weiß. In anderen Ländern hatte man schon längst Farbfotografie, bei uns nicht. Ich weiß noch, wie ich mich wunderte, als ich bei deutschen Freunden Farbfotos aus den Siebzigern sah, ich war irritiert, denn für mich ist alles bis zur Mitte der Achtziger zweifarbig.

Als Papa 2019 gestorben war, haben wir im Keller seiner Potsdamer Wohnung eine Kartonkiste mit den Dias gefunden. Erstaunlich: Weder meine Mutter noch meine Schwester konnten sich erinnern, sie damals aus Charkiw mitgenommen zu haben! Und ich muss gestehen, ich habe ganz vergessen, dass wir überhaupt jemals neben den Fotos noch Dias hatten – aber ja, es gab sie tatsächlich, und auch die Dia-Abende bei uns zu Hause gab es, als ich fünf, vielleicht sechs war, wo man die Leinwand aufhängte, das Licht ausmachte und sich mit Freunden stundenlang Dias anschaute.

Ich fand es eher langweilig, aber jetzt, Jahrzehnte später, war dieser Fund ein Schatz! Meine Schwester hat mir einen Scanner geschenkt, und ich habe alle Dias eingescannt. Plötzlich bekamen meine Kindheitserinnerungen Farbe – ein neues, seltsames Gefühl. Ein Gedächtnis-Upgrade.

In den letzten Wochen habe ich mir Vaters Bilder öfter angeschaut, vor allem die, auf denen man unsere Heimatstadt Charkiw sieht. Eine Stadt, die seit 48 Tagen von der russischen Artillerie täglich beschossen und systematisch zerstört wird. Immer wieder stoße ich im Internet auf die neuesten Bilder aus Charkiw. Oft sind es die gleichen Straßen, aber heute sehen viele von ihnen anders aus. Menschenleer. Staub, Glassplitter, Trümmer, zerbrochene Fenster, ruinierte Häuser …

Wohngegend in Chrarkiw Ende März.
Wohngegend in Chrarkiw Ende März.
© Seth Sidney Berry/IMAGO/ZUMA Wire

Manche Fotografen entscheiden sich jetzt bewusst für Schwarz-Weiß, wenn sie den Krieg in der Ukraine fotografieren. Wenn ich sie sehe, muss ich an Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg denken – manchmal bin ich mir nicht ganz sicher, wann sie aufgenommen wurden, 2022 oder vielleicht 1942?

Ein Bekannter von mir, ein erfolgreicher ukrainischer Fotograf, Andrey, sammelt seit Jahren Fotomaterial aus den Dreißigern und Vierzigern – private Archive, aber auch Bücher und Alben. Vor zehn Jahren ist er nach Moskau gezogen. Bis vor Kurzem war Andrey viel unterwegs, mal als Fotokorrespondent, mal als Kurator von Ausstellungen, in denen Bilder aus seiner umfangreichen Sammlung gezeigt wurden.

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Wir haben uns immer wieder in Berlin getroffen. Seine Freundin und er haben immer den Eindruck vermittelt, trotz ihrer russischen und ukrainischen Pässe Bürger der Welt zu sein. Selten habe ich so ein positives, fröhliches Paar erlebt. Zwar wollten sie nie über Politik sprechen – als Fotojournalist sieht man oft ganz viel davon, was die anderen nicht sehen, es sei nie eindeutig, sagte Andrey immer.

Wir haben uns einmal falls zerstritten, als sie mir von ihrem Projekt über die Schicksale der so genannten "Brüdervölker" erzählt haben.

Heute sind er und seine Frau in Moskau, während ihre Eltern in der Ukraine sind, an Orten, die seit den ersten Kriegstagen beschossen werden. Neulich hat Andrey auf Facebook angekündigt, dass er sich von seinen Fotoalben über den Zweiten Weltkrieg trennen möchte. „Wenn die Menschheit aus den Lehren dieser Zeit nichts gelernt hat, dann sind diese Bücher nichts wert. Wenn Ihr wollt, kommt und holt sie ab“, schreibt er.
Lesen Sie hier weitere Teile des Tagebuches:

Yuriy Gurzhy

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