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Patriotismus im Namen der Diskriminierung. AfD- und Pegida-Anhänger ziehen im September 2018 durch Chemnitz.
© Ralf Hirschberger/dpa

Soziologe Wilhelm Heitmeyer: „Die AfD ist ein Meister der emotionalen Ausbeutung“

Soziologe Wilhelm Heitmeyer untersucht seit Jahren die Zustände im Land. Ein Gespräch über neuen Autoritarismus, rohe Bürgerlichkeit und die Schweigespirale.

Herr Heitmeyer, die Volksparteien zerbröseln, die AfD hat in Bayern die SPD überholt. Ist das eine Krise der Parteien oder der Gesellschaft?

Eindeutig eine Krise der Gesellschaft. Wobei man immer das Zusammenwirken von ökonomischen, sozialen und politischen Prozessen analysieren muss, um die Mechanismen zu erkennen. Meine These lautete 2001: Der autoritäre Kapitalismus, der sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, konnte seine Maximen weitgehend ungehindert durchsetzen. So wurden zahlreiche Desintegrationsprozesse mit tiefreichenden Verunsicherungen und Kontrollverlusten in Teilen der Bevölkerung in Gang gesetzt. Gleichzeitig wurde eine Demokratieentleerung wahrgenommen. Gewinner wäre dann ein rabiater Rechtspopulismus.

Ihr Buch handelt vom „Autoritären Nationalradikalismus“. Ein Synonym für Rechtspopulismus?

Nein, der Begriff Rechtspopulismus ist völlig ungeeignet wegen seiner Beliebigkeit und für die AfD inzwischen viel zu verharmlosend. Das Autoritäre besteht darin, ein Gesellschaftssystem zu zimmern mit festen Hierarchien und rigiden Ordnungsvorstellungen. Und dem Versprechen einer Wiederherstellung von Kontrolle: „Wir holen uns unser Land zurück.“ Das Nationale setzt sich unter anderem aus deutschen Überlegenheitsvorstellungen und revisionistischen Geschichtsdeutungen zusammen, die etwa Björn Höcke und seine Anhänger vehement vertreten. Und beim Radikalen geht es um den Versuch eines Systemwechsels, gegen die offene Gesellschaft und gegen die liberale Demokratie. Gezielt wird auf die Destabilisierung von Institutionen. Das ist zentral und wird zu wenig beachtet.

Wann begann denn der Weg in diese Entwicklung?

Verstärkt mit den Krisen seit der Jahrtausendwende. Krisen setzen die alltäglichen ökonomischen, sozialen und politischen Routinen außer Kraft, anschließend ist der Zustand vor der Krise nicht mehr wiederherstellbar. Die Signaturen der Bedrohung, so nenne ich das, begannen mit dem 11. September 2001, als mit den islamistischen Anschlägen die Religion in die Weltpolitik zurückkehrte. 2005 begann mit Hartz IV für einen Teil der Bevölkerung eine neue Krise. Es folgten die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und die Flüchtlingsbewegungen von 2015. Wenn man die Krisendefinition ernst nimmt, lässt sich auch das als eine solche bezeichnen, denn die Routinen setzten aus. Solche Signalereignisse sind emotional ausbeutbar, und der autoritäre Nationalradikalismus der AfD ist darin ein Meister.

Momentan kreist die Diskussion um Migrationsfragen. Gäbe es ohne die sogenannte Flüchtlingskrise denn keine Sehnsucht nach dem Autoritären?

Nein. Wir haben die Krisen der letzten 17 Jahre mit unserem Bielefelder Institut mit jährlichen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen begleitet. Dabei zeigten sich die Einstellungsmuster, die zum autoritären Nationalradikalismus führen, bereits vor Pegida und vor der AfD, auch schon vor der Finanzkrise. Das war vor der Flüchtlingsbewegung alles schon da, es war ein vagabundierender Autoritarismus in Teilen der Bevölkerung, der bis 2014 beziehungsweise 2015 keinen politischen Ort hatte.

Ein Potenzial, das nur gebündelt werden musste?

Ja, wir messen seit 2002 in repräsentativen Umfragen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und autoritäre Aggression als Kern rechtspopulistischer Einstellungen. Damals lag das Potenzial bei 20 Prozent. Nach der Finanzkrise haben sich die Ansichten ab 2009 radikalisiert, das kann man an den Kurven der Langzeituntersuchung sehen. Das Gefühl der Einflusslosigkeit nahm zu, die Demonstrationsbereitschaft stieg erheblich, auch die individuelle Gewaltbereitschaft. Nicht generell in der Bevölkerung, aber bei denen, die rechtspopulistische Einstellungen hatten. Wir haben immer wieder neue Zahlen veröffentlicht, aber entscheidende Teile der etablierten Politik haben sich nicht darum gekümmert, denn das tangierte bis dahin nicht die Mandate.

Besorgter Wissenschaftler. Wilhelm Heitmeyer analysiert den deutschen Rechtsruck.
Besorgter Wissenschaftler. Wilhelm Heitmeyer analysiert den deutschen Rechtsruck.
© picture alliance / dpa

Radikalisierung ist ein schleichender Prozess, Sie sprechen von „Normalitätsverschiebungen“. Wie kommt es dazu?

Alles, was irgendwann als normal gilt, kann man nicht mehr problematisieren. Es ist da, fast wie eine Wahrheit.

Meinen Sie Begriffe, die in den Mainstream sickern, wie „Umvolkung“, „Lügenpresse“ oder „Herrschaft des Unrechts“?

Solche Begriffe stehen für gefährliche Normalisierungsprozesse. Denn wir sind immer schnell bereit, uns vom Extremen zu distanzieren. Aber das Destruktive in unserer Normalität ist schwer zu entdecken. Wenn etwas selbstverständlich geworden ist, wird es außerordentlich schwierig, dagegen vorzugehen. Deshalb geht es auch nicht mehr um die Formel „Wehret den Anfängen!“, die Formel muss eigentlich lauten: „Wehret der Normalisierung!“

Sie haben den Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ geprägt. Nimmt sie zu?

Sie nimmt nicht in allen Facetten zu, aber sie wird inzwischen offener ausgetragen, mit rohen Worten oder Gewalt. Wenn Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten abgewertet werden, geht das über bloßen Rassismus hinaus. Obdachlose, Homosexuelle oder Behinderte können genauso Opfer werden. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass es ein Eskalationskontinuum gibt. Unter den sogenannten Abgehängten existiert ein Potenzial für Abwertung und Diskriminierung, das von der sich bürgerlich gebenden AfD befeuert und legitimiert wird. Da ist der Weg in die Gewalt nicht mehr weit.

Sie sprechen von „roher Bürgerlichkeit“. Was meinen Sie damit?

Eliten fungieren als Transmissionsakteure bei der Verschiebung von Normalitätsstandards. Ein Beispiel ist Alexander Gauland, der als CDU-Politiker mit dem konservativen „Berliner Kreis“ unter Angela Merkel das erlebt hat, was man „relative politische Deprivation“ nennen kann: ein Gefühl von ungerechter Behandlung, Anerkennungsverlust und Isolation. Darauf gibt es mehrere Reaktionsmöglichkeiten. Man kann sich in die Resignation oder in die Depression verabschieden. Gauland entschied sich für die Radikalisierung und für die Anerkennung in einer neuen Bezugsgruppe. Das funktioniert auch in Gruppen, etwa wenn Ostdeutsche sich mit Flüchtlingen vergleichen und glauben, dass ihre Lebensleistung nicht anerkannt wird, wo doch die Flüchtlinge noch keine Lebensleistung erbracht hätten und dann auch noch Geld oder Wohnungen bekämen. Eine Folge: Man wertet sich selbst auf, indem man andere abwertet oder diskriminiert.

Auch Thilo Sarrazin kommt in Ihrem Buch vor. Hat er mit seinen Thesen den Aufstieg des neuen Autoritarismus gefördert?

Wissenschaftlich kann ich das nicht beurteilen, dazu kenne ich keine Untersuchungen. Aber Sarrazin hat in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ biologistisch argumentiert und schlechte Schulleistungen von muslimischen Migranten auf einen angeblich niedrigen Intelligenzquotienten zurückgeführt statt auf soziale Probleme. In seinen Lesungen sitzen nicht die Angehörigen unterer sozialer Schichten, denen man oft die brutalen Äußerungen gegen Fremde zuschreibt; die kaufen auch seine Bücher nicht. Solche brutalen Äußerungen gibt es, sie entstehen aufgrund von sozialer Konkurrenz. Die „rohe Bürgerlichkeit“ fällt weniger auf, das sind oft blitzblanke Fassaden, hinter denen die Überzeugung von kultureller Überlegenheit, Untergangsvorstellungen des deutschen Kulturvolkes und ein Jargon der Verachtung anzutreffen sind.

Können zivilgesellschaftliche Projekte wie die „Unteilbar“-Demonstration den autoritären Nationalradikalismus stoppen?

Solche Aktionen sind wichtig. Jede Gesellschaft muss darauf achten, dass die geltenden Normen immer wieder öffentlich dokumentiert werden. Allerdings erreicht man damit in der Regel nur die Leute im eigenen Milieu, in der eigenen Filterblase. Zentral ist der Alltag mit seinen Normalisierungsprozessen und Normalitätsverschiebungen. Wir müssen keine Helden spielen, aber wenn in Freundeskreisen, bei Familientreffen oder im Sportverein nach dem dritten Bier Sätze mit Floskeln wie „Das darf man nicht mehr sagen, aber…“ beginnen, sollten wir mutig sein und widersprechen.

Gesicht zeigen. Teilnehmer der Berliner „Unteilbar“-Demonstration.
Gesicht zeigen. Teilnehmer der Berliner „Unteilbar“-Demonstration.
© AFP

Warum?

Weil es um die tagtägliche Festigung von mühsam erreichter liberaler Normalität geht. Das ist ein ganz hartes Training. Denn die sozialen Kosten können ziemlich hoch sein. Familien brechen auseinander, Freundschaften werden beendet, die Kollegialität im Betrieb „vereist“ und so weiter. Aber ohne Widerspruch setzt das ein, was man als „Schweigespirale“ bezeichnet. Wenn Personen mit menschenfeindlichen Einstellungen gegenüber fremden Gruppen den Eindruck haben, sie seien Teil einer Minderheit, dann ändern sie zwar nicht ihre Meinung, gehen damit aber auch nicht in die Öffentlichkeit. Es bleibt gewissermaßen hinter den privaten Gardinen. Glauben Menschen aber, zur Mehrheit zu gehören, dann hauen sie ihre Meinung ungefiltert raus, im Bus, im Wartezimmer oder auf der Party. Daraus bilden sich öffentlich auftretende Kollektive. Dann wird es gefährlich, so wie wir das zurzeit erleben.

Das Gespräch führte Christian Schröder.

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