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Ein Mann, ein Buch. Berlins Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin hat mit seinem Bestseller nicht nur seinen eigenen Haushalt saniert, sondern auch viel öffentlichen Gesprächsstoff geliefert.
© dapd

Ein Jahr "Deutschland schafft sich ab": Integrationsbeauftragte wirft Sarrazin Verunglimpfungen vor

Ein Jahr ist es her, dass Thilo Sarrazins Buch mit den provokanten Integrations-Thesen erschien. Die Meinungen darüber, was "Deutschland schafft sich ab" bewirkt hat, gehen bis heute scharf auseinander.

Er spaltet immer noch. Ein Jahr ist es her, dass Thilo Sarrazin sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlicht hat. Darin prangert der einstige Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand in scharfem Ton und mit vielen Statistiken unterfüttert Defizite bei Zuwanderern in Deutschland an. Das Buch wurde bislang rund 1,3 Millionen Mal verkauft, Sarrazin ist Dauergast bei Talkshows und Lesungen quer durchs Land.

Fragt man ein Jahr danach, was das Buch in diesem Jahr bewirkt hat, gehen die Meinungen scharf auseinander. „Sarrazin hat auf Probleme hingewiesen, die unstrittig sind – aber er hat auch zur Polarisierung der Integrationspolitik beigetragen“, sagt Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD). Die Polarisierung umschreibt Hilmi Kaya Turan, Sprecher des Türkischen Bundes Berlin Brandenburg (TBB), so: „Sein Buch hat zu allgemeinen Verunsicherung von Menschen mit Migrationshintergrund beigetragen, die sich zu Sündenböcken gemacht fühlen.“ Das kritisiert auch Sozialsenatorin Carola Bluhm (Linke): „Die Debatte über Sarrazins Buch hat der gelebten Integration geschadet und sehr viele Menschen verletzt, die Stadt aber kein Stück vorangebracht“, sagt sie.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Staatsministerin Maria Böhmer (CDU), hält Sarrazin vor, die Debatte zurückgeworfen zu haben: „Wahrnehmung und Wirklichkeit bei der Integration klaffen ein Jahr nach Erscheinen des Sarrazin-Buchs mehr denn je auseinander“, sagte sie dem Tagesspiegel am Montag. „Dies ist die Folge des von Sarrazin gezeichneten Zerrbildes, das bewusst Fortschritte bei der Integration ausblendet.“ Manche integrationswillige Migranten, so Böhmer, fühlten sich durch das Buch „in ihren Gefühlen verletzt und zurückgestoßen“. Für das Zusammenleben sei der intensive Dialog unverzichtbar: „Wir brauchen eine lebhafte und sachliche Diskussion über Integration. Weder Schreckensszenarien noch Schönfärberei bringen uns weiter. Ziel muss es sein, das Vertrauen zwischen Einheimischen und Migranten zu stärken, Fehlentwicklungen zu stoppen und die Integration konkret voranzubringen. Dazu gehört eine Kultur des Streitens, die ohne Pauschalisierungen und Verunglimpfungen auskommt.“

Lesen Sie auf Seite 2, warum CDU-Fraktionschef Henkel Sarrazins umstrittenes Buch verteidigt.

Frank Henkel hingegen, der Berliner CDU-Fraktions- und Parteichef, verteidigt das umstrittene Buch: „Thilo Sarrazin hat ein Ventil geöffnet, vor allem in der Bevölkerung.“ Man müsse „nicht jede einzelne These teilen“, aber der Sozialdemokrat habe erreicht, „dass leidenschaftlich über Integration diskutiert wird“. Auch, weil „viele seiner Kritiker kein überzeugendes alternatives Angebot machen konnten“.

Das ist auch Heinz Buschkowskys größte Enttäuschung: „Es gibt leider kein Buch, das ihn widerlegt.“ Viel zu lange sei die Diskussion „möglichst seicht an der Oberfläche gehalten“ worden, „sobald es unangenehm wird und Probleme mit bestimmten Ethnien angesprochen werden, schwappt die Debatte hoch, wird aber gleich wieder gedeckelt“. Sarrazin habe die Probleme so offensiv benannt wie wenige andere. Ist das hilfreich oder belastend? Das sieht Buschkowsky ambivalent: „Die Debatte ist im vergangenen Jahr noch hysterischer und inquisitorischer geworden“, sagt er und meint damit vor allem Vertreter linker Positionen, die die Probleme nicht offen ansprächen. Wer sich kritisch äußere und wie Buschkowsky auf schwere Sprachdefizite vor allem bei Schülern mit Migrationshintergrund verweise, „der wird sofort als Rassist beschimpft“. Das sei vor Sarrazins Buch weniger häufig passiert.

Andere Sozialdemokraten sehen die Schuld für die Polarisierung weniger bei Sarrazins Gegnern als beim Autor: „Sein Buch spaltet, statt zu ermutigen“, sagt Christian Gaebler, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion und Vorsitzender des Kreisverbandes Charlottenburg-Wilmersdorf, dem auch Sarrazin weiter angehört, nachdem ein Parteiausschlussverfahren scheiterte. Zwar gebe es auch in der SPD viele Menschen, die froh sind, dass jemand die Probleme so anspreche wie Sarrazin. Eine eben so große Gruppe aber finde: „Der übertreibt.“

Lesen Sie auf Seite 3, wie Thilo Sarrazin ein Jahr nach der Veröffentlichung auftritt.

Sarrazin selbst zeigt sich ein Jahr danach provokant wie eh und je. Gefragt, ob er etwas bereue, zieht er in einem aktuellen Interview mit der „Zeit“ einen historischen Vergleich, um zu illustrieren, wie sehr er sich seit der Veröffentlichung öffentlich drangsaliert gefühlt habe und dadurch „härter“ geworden sei: „Nach diesem vergangenen Jahr habe ich kapiert, wie die Sowjetunion der Stalinzeit ihre Gefangenen umgedreht und sie zu falschen Geständnissen gezwungen hat: Man muss den Menschen nur lange genug isolieren und immer wieder bestimmten Vorwürfen aussetzen, dann gesteht er am Ende die verrücktesten Dinge.“

Hat Sarrazin auch die akademische Beschäftigung mit Integration verändert? Ein bisschen schon, sagt Klaus Eder, Soziologieprofessor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität: Bei quantitativen Untersuchungen zum Thema Integration sei man jetzt „noch vorsichtiger“ geworden, da Sarrazin viele Zahlen für seine Thesen „missbraucht“ habe. „Die eindeutigen Trends, wie Sarrazin sie beschreibt, gibt es nicht.“ Deswegen sei man jetzt in der Wissenschaft noch zurückhaltender mit Fortschreibungen von statistischen Befunden, um deutlicher zu machen, dass die Wirklichkeit dynamischer und schwerer vorherzusagen ist, als es Sarrazins Buch suggeriert habe.

Lars von Törne

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