Edith Clevers Laudatio beim Theatertreffen: Der Zauber des ersten Augenblicks
Der Alfred-Kerr-Darstellerpreis des Theatertreffens geht dieses Jahr an Valery Tscheplanowa. In ihrer Laudatio erklärt Jurorin Edith Clever, warum sie sich für die junge Russin entschieden hat.
Zum 20. Mal wurde am Sonntag beim Theatertreffen, im Haus der Berliner Festspiele, der Alfred-Kerr-Darstellerpreis verliehen. Jurorin war Edith Clever, die große Tragödin der alten Schaubühne. Ihre Wahl fiel auf Valery Tscheplanowa. Die junge Schauspielerin wurde 1980 in Russland geboren, studierte in Berlin an der Schauspielschule „Ernst Busch“. Nach erstem Engagement am Deutschen Theater ging sie nach Frankfurt am Main, jetzt ist sie in München im Ensemble des Residenztheaters. Der Preis ist mit 5000 Euro dotiert und wird vom Tagesspiegel unterstützt. Wir drucken Edith Clevers Rede in leicht gekürzter Form.
Es war eine würdige Eröffnung des Theatertreffens. Thomas Oberender und Alexander Kluge wiesen dem Theater in unserer Gesellschaft einen wichtigen Platz zu. Ich möchte eine Stelle aus Kluges Rede zitieren: „Der Kokon der Aktualität, in dem wir uns gemeinsam mit den Medien und der Tagespolitik einspinnen, ist nicht unsere reale Gegenwart. Sie ist ein Kokon, eine Abwehr gegen das Zuviel an Realität, eine Täuschung. Die Nachrichtenfolge hat einen rasanten Fluss. Eben noch Libyenkrise, dann Affaire Wulff oder das Problem einer Dissertation, bei der abgeschrieben wurde. Es folgt der Syrien-Konflikt. Hundert Jahre Erster Weltkrieg. Hoeneß. Die Ukraine-Krise. Das ist Information, aber keine Gegenwart. Ich behaupte nicht, dass das Theater hierzu bereits die Gegenöffentlichkeit bietet. Aber das Theater, wenn es gelingt, hat einen anderen Erzählfluss.“
Aber nun zu meiner Aufgabe. Ich will die jungen Schauspieler, die mir besonders aufgefallen sind, noch einmal um mich versammeln und sie anschauen, wie ich es tat, bevor ich die schwierige Entscheidung traf.
Es geht um viel
Das erste Stück, das ich sah, war „Zement“ von Heiner Müller in der Inszenierung von Dimiter Gotscheff, eine Bergbesteigung, ein langer und anstrengender Abend. Aber am nächsten Morgen war ich einverstanden und dachte, ja, manchmal muss es anstrengend sein, weil: Es geht um viel. Zu Beginn des Stückes öffnete sich ein Spalt, daraus hervor trat eine Mädchengestalt und sang. Mit immer größerer Kraft. Und später erzählte sie uns, manchmal berichtete sie, manchmal beschwor sie die Geschichte von Prometheus und von Herakles und einem Adler und von dreitausend Jahren und wieder dreitausend Jahren, die vergangen waren, und währenddessen stand sie und stellte sich, klar und erfüllt von ihrer Geschichte, plastisch auch mit den Händen malend – und immer die Mundwinkel etwas nach oben. Naiv und kämpferisch, immer klar und leuchtend. Das war Valery Tscheplanowa, und ich war sehr froh. Die nächste Schauspielerin, die mir auffiel, war die Sonja in „Onkel Wanja“, gespielt von Katharina Knap. Die Rolle war von der Regie in ihrem Reichtum nicht gestaltet, aber ich erinnere mich an einen Moment, der mich neugierig machte. Gegen Ende stand sie, still, aufrecht und nahm ihren Bruder wahr, seine tiefe Verzweiflung und Wut. Klar nahm sie alles auf, nichts weiter. Das sah ich und begegnete in diesem Moment der Sonja von Anton Tschechow. Am Schluss stand sie ganz vorn an der Rampe und sprach von dem Unglück der Menschen und der Hoffnung auf Tröstung. Aber das wurde plötzlich von der Willkür des Regisseurs, wie mir schien, zerrissen.
Alle Schauspieler waren "richtig"
Jetzt komme ich zum „Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleißer in der Inszenierung von Susanne Kennedy. Das war für mich die eindrucksvollste und intensivste Aufführung. Hier waren die Schauspieler alle „richtig“. Wie angenagelt an ihre Plätze standen sie im flackernden hellen Licht in dem kleinen kahlen Raum. Wenig Bewegungsmöglichkeit. Augen, Hals und Kopf, Oberkörper, manchmal ein paar Schritte. Immer passend zur Figur. Christian Löber spielte den Roelle in der Haltung einer verbogenen Christusgestalt. Mit feinen Gesichtszügen, den Mund verzogen zu einem Lächeln zwischen Qual und Hochmut. Die Knie aneinandergedrückt, hatte er keinen sicheren Halt, der Oberkörper wich oft zur Seite oder nach hinten aus, wenn die Mutter ihn fütterte. Oder er presste den Oberkörper gegen die Wand, während er tief in den Knieen hing und verzweifelt versuchte, der Erniedrigung standzuhalten.
Franz Pätzold sagt ein Ja, das mich berührt hat.
Dann schauen wir ihm zu, wie er zitternd und mit flackernden Augenlidern den vergeblichen Versuch macht, eine Engelerscheinung hervorzurufen. Der Text kam leicht verfremdet vom Band. Dennoch glaubte ich, die Figuren selbst sprechen zu hören, so genau wurde offenbar gearbeitet und der Fleißer-Text, dieser eigentümliche und prägnante, stand Satz für Satz im Raum. Von Christian Löber würde ich gern einmal den „Prinzen von Homburg“ sehen.
Ich gehe weiter zu Frank Castorf zur „Reise ans Ende der Nacht“ von Céline und zwei sehr guten jungen Schauspielern. Britta Hammelstein und Franz Pätzold; er war mit 25 Jahren der Jüngste bei diesem Theatertreffen. Britta Hammelstein war umwerfend naiv, frech, eigensinnig, raffiniert, immer möglichst dicht am Körper des Mannes, um Liebe bettelnd, kindlich und kindisch, hochtheatralisch, herrlich ordinär und nur eine Sekunde lang still und entwaffnet, als Robinson entnervt versucht, ihr sein Verhälltnis zur Liebe und Welt ins Hirn zu drücken. Da sagt sie schließlich ein ganz kleinlautes Ja. Aber nur, um im nächsten Moment wieder loszulegen.
Ja, ich habe Angst
Auch Franz Pätzold sagt ein Ja, das mich berührt hat – nämlich wenn ihn die Todesangst überfällt und sie ihn fragt: Hast du Angst? Da antwortet er still, ja, ja ich habe Angst. Sonst wird unaufhaltsam gebrüllt, was ich irgendwie bewundere, weil ich es mit meiner Stimme nicht könnte. Castorf entwickelt alles, wie mir scheint, aus der körperlichen Verausgabung. Durch die starke Beanspruchung des Zwerchfells und die Anstrengung wird viel Energie frei, andererseits lässt es wenig Differenzierung zu.
Was macht ein Riese in einer Zwergenwelt? Jirka Zett fällt in diese Welt hinein. Er spielt in Alvis Hermanis’ „Kaspar Hauser“-Inszenierung aus Zürich die Verwandlung eines vorweltlichen, in sich gekrümmten Kindes in einen sich aufrichtenden Riesen. Einsam und traurig schmeckt er von der Zwergenwelt, aber er passt nicht in sie hinein.
Das Theater handelt vom Menschen
Darf ich noch sagen, dass die alles überragende Aufführung für mich „Tauberbach“ von Alain Platel war? In seiner großen Humanität überstrahlte dieser Abend für mich alle anderen Aufführungen und könnte uns, die wir Theater machen, auch im Hinblicken auf die „Letzten Zeugen“, die wir sahen, den Weg in die Zukunft weisen. Das Theater handelt vom Menschen und muss wieder lernen, ihn zu suchen und zu erforschen.
Und nun kommt meine Entscheidung, und ich betone noch einmal, dass sie mir schwergefallen ist. Aber wenn ich nach meinem Herzen gehe, gebe ich mit größter Freude den Preis an Valery Tscheplanowa, die mir am ersten Abend so sehr gefallen hat. Schon gleich als sie erschien und die Bühne betrat, hatte sie mich gewonnen. An ihr hat mir alles gefallen. Und ihre klare leuchtende Stirn, ihr fester und doch leichter Schritt, ihr Singen, ihr Temperament, ihr Humor – das alles hat mich bezaubert. Auch der russische Klang in ihrer Sprache und das mitreißende russische Lied. Alles war so selbstverständlich und mutig.
Edith Clever