zum Hauptinhalt
Ohne Tschechow geht es nicht. „Onkel Wanja“ aus Stuttgart in der Regie des Theatertreffen-Neulings Robert Borgmann.
© Julian Röder

Berliner Theatertreffen 2014: Reisenotizen eines Jurors: Fegefeuer, Freudenfeuer

Wohin die Reise auch geht, man trifft auf Berlin. Das Theatertreffen zeigt, dass die Hauptstadt noch immer als Stillabor funktioniert. Nur anderswo hat das Berliner Theater mehr Erfolg.

Wer viel unterwegs ist, nimmt dummer- oder glücklicherweise immer sich selbst mit. Und wer die Berliner Theaterprovinz verlässt, um im übrigen deutschsprachigen Theater die aufregende Kunst zu entdecken, die in Berlin derzeit eher selten blüht, stößt immer wieder auf: Berlin. Vielleicht findet das interessantere Berliner Theater längst außerhalb Berlins statt. Das könnte entweder bedeuten, dass die Berliner Theater immer noch, wie in den Nuller Jahren, als Talentreservoir und Stillabor funktionieren, dessen Unikate dann woanders in Serienproduktion gehen.

Oder es könnte bedeuten, dass die besseren Berliner Intendanten und Regisseure die Stadt längst verlassen haben, weil sie zum Beispiel in Stuttgart oder München von der Politik höflicher behandelt werden. Oder beides. Zurück bleiben Langzeitbesitzstandswahrer am Lehniner Platz und am Schiffbauerdamm oder etwas zu seriöse Bürger in der Schumannstraße. Das sind schon mal drei gute Gründe, das spannende Theater woanders zu suchen.

Das Problem an den Juryreisen fürs Berliner Theatertreffen sind natürlich erstens die Reisen und zweitens das Theater. Die Annahme, Theaterbesuch mache die Menschen irgendwie wacher, aufmerksamer, gar sensibler, kann ich nicht bestätigen. Wer im Dienst der Theatertreffen-Jury rund 100 Vorstellungen im Jahr sieht, kann sich solche Empfindlichkeiten nicht leisten. Wer den Härtetest ohne größere seelische Schäden überstehen will, braucht Stoizismus und die Fähigkeit, sich mit unerschütterlichem Gleichmut in sein Schicksal zu fügen.

Wenn beispielsweise Andrea Breth in Frankfurt a. M. die menschliche Kälte einer lieblosen Ehe mithilfe eines Eisbergs aus Styropor illustriert, wenn in Magdeburg Woyzeck im Plattenbau wohnt oder bei einem Publikumsgespräch nach einer Houellebecq-Inszenierung in München ein Dramaturg zum Besten gibt, Männer und Frauen müssten einfach mehr Tango miteinander tanzen, dann würde jeder normale Mensch flüchten.

Das Jurymitglied bleibt eisern gelassen. Flucht wäre sinnlos, schon weil die Alternative zur Tristesse des Theaters die Tristesse des Hotelzimmers ist. Für die Tristesse der Hotelzimmer sorgt übrigens zuverlässig die Bundesreisekostenverordnung und die in ihr streng geregelten Spesensätze. So lernt man die von Theaterleuten bei der Theaterkritik so schmerzhaft vermisste Demut. Auch die optimistische Annahme, dass Reisen bilde, kann ich nicht bestätigen. Wer seine Tage in ICEs oder auf Flughäfen verbringt, lernt schnell, im Mitmenschen vor allem eine Belästigung zu sehen. Dem Juryreisenden hilft nur größtmögliche Abgestumpftheit. Ohne sie ist man in der Weite und der Enge der deutschsprachigen Theaterlandschaft verloren.

Möglicherweise täuscht die Liste, nach der vier der zehn Theatertreffen-Inszenierungen aus München und zwei aus Zürich kommen, während aus Berlin einzig Herbert Fritschs Dada-Oper „Ohne Titel Nr. 1“ von der Volksbühne eingeladen wurde. Denn wo München oder Stuttgart oder Ruhrtriennale draufsteht, ist jede Menge Berlin drin. Und das nicht nur, weil „Situation Rooms“, die eingeladene Produktion der Ruhrtriennale, von Rimini-Protokoll stammt. Sie kann unglücklicherweise aus technischen Gründen nicht beim Theatertreffen gezeigt werden, kommt aber im Dezember nach Berlin ins HAU.

Ein Findling, ein Fremdkörper: Inszenierungen von Castorf und Gottscheff.

Er ist wieder da. Frank Castorf bei einer Céline-Probe.
Er ist wieder da. Frank Castorf bei einer Céline-Probe.
© Thomas Dashuber

Zwei wuchtige, wichtige Münchner Großproduktionen sind Arbeiten von Berliner Regisseuren, „Die Reise ans Ende der Nacht“, Regie: Frank Castorf, und Heiner Müllers „Zement“, Regie: Dimiter Gotscheff. Anfang der siebziger Jahre war Ruth Berghaus Uraufführung des Stücks am Berliner Ensemble eine Provokation. Das Requiem für die Revolution stellte nicht edle Kommunisten, sondern Mörder auf die Bühne. Ein paar Jahre nach dem Zeitraum der Handlung werden sie als Profis der Geheimpolizei Stalins Mord- und Unterdrückungsmaschine bedienen.

Der Terror gegen die eigene Bevölkerung als Regierungsinstrument. Das war Müllers erste Zumutung. Seine zweite Zumutung bestand darin, die Revolution trotzdem zu feiern. Gotscheffs Inszenierung wirkt in München wie ein Ufo von einem anderen Stern oder aus einer anderen Zeit. Sie stellt Fragen, die im wohlstandssatten, freundlich entspannten München nicht auf der Tagesordnung stehen. Vielleicht ist diese Fremdheit die eigentliche Kraft des Theaters – auf jeden Fall des Gotscheff-Theaters.

Es ist das spröde Gegenteil all der gegenwarts- und selbstverliebten „Aktualisierungen“, die die Klassiker auf Unterhaltungsbedürfnisse herunterbanalisieren. Gotscheffs Inszenierung ist ein sehr schöner Fremdkörper. Die Klarheit der Form, die Kraft, den Stoff weder zu ironisieren noch in Oberflächenpathosformeln zu entsorgen, die Nüchternheit, aus der eine leise, bittere Tragödie entsteht – das machte seine Kunst zu etwas Solitärem im deutschen Theater.

Castorfs Céline-Fieberrausch ist ein etwas anderer Findling – wüst, politisch unkorrekt, unbekümmert um Erzählökonomie, an Klarheit der Form gänzlich desinteressiert, aber in diesen Überhitzungen, der latenten Hysterie, der Aggression sehr nah an Célines Stilexplosionen. Was Célines Skandal- und Jahrhundertroman der „Reise ans Ende der Nacht“ mit der Sprache und der Form des Romans macht, macht Castorf mit dem Theater.

Frappierend ist, wie die Münchner Schauspieler, allen voran die tolle Bibiana Beglau, Frank Pätzold und Aurel Manthei, den Berliner Volksbühnen-Stil nicht imitieren, sondern okkupieren. Und wie dieser sich ziel- und maßlos durch die Höllen des zwanzigsten Jahrhunderts treiben lassender Abend auch bei gelegentlichen Abschlaffungsphasen nie beliebig wirkt, wie der Grundzynismus nicht zur Pose verkommt, sondern diese Assoziations- und Wutmaschine immer weiter treibt, als hätte Castorf sein Theater eben erst erfunden.

Nach ziemlich quälenden Jahren, in denen man in Castorfs ratlos von sich selbst genervten Inszenierungen vor allem unter Langeweile gelitten hat, hat der alte Wilde vom Rosa-Luxemburg-Platz derzeit offenbar einen Lauf wie in seinen besten Zeiten. Wir vermuten mal, dass zum Besten der Theaterstadt Berlin seine bislang letzte Vertragsverlängerung als Volksbühnen-Intendant nicht die letzte bleiben wird.

Aber der Berliner Stilexport funktioniert auch in anderen Städten und natürlich auch über die deutschen Grenzen hinaus. Matthias Hartmann, ansonsten ein gefürchteter Kunsthandwerker der Gefälligkeitsklasse, als geschasster Wiener-Burgtheater-Intendant über sein Geschäftsgebaren gestolpert, hat mit „Die letzten Zeugen“ einen eindringlich nüchternen, ganz auf die Lebensgeschichten ausgerichteten Dokumentarabend inszeniert, mit Juden aus Wien, die den Holocaust überlebt haben. Es wirkt, als hätte er sich zwecks Entschlackung seiner Stilmittel bei den spröden Dokumentarstücken des Berliner Regisseurs Hans-Werner Kroesinger und den Experten des eigenen Lebens von Rimini-Protokoll ein Vorbild genommen.

Der schönste und größte Berlinexport ist vielleicht das Staatsschauspiel Stuttgart. Endlich kann Armin Petras nach den Jahren am schlecht finanzierten Maxim-Gorki-Theater aus dem Vollen schöpfen. Das führt regelmäßig zu ziemlich erstaunlichen Arbeiten, deren Tempo, Intelligenz und künstlerische Entschiedenheit zusammen mit einem ziemlich großartigen Schauspielerensemble derzeit für die besten Möglichkeiten des Stadttheaters stehen. Es wirkt, als sei das immer etwas unterschätzte Maxim-Gorki-Theater ein ziemlich ideales Intendantentrainingslager für Petras gewesen.

Offenkundig will er das beste beider Welten verbinden. Radikales Theater, wie zuletzt in seiner furiosen Schwarzwald- und Märchenfilmexpedition „Das kalte Herz“, und echtes Interesse am Publikum und der Stadt, in der und für die er Theater macht. Der junge Regisseur Robert Borgmann, in Berlin am Maxim-Gorki-Theater mit einer eher verunglückten Arbeit hervorgetreten, hat am Schauspiel Stuttgart einen „Onkel Wanja“ herausgebracht, dem man ansieht, dass der Regisseur viele Nächte in Castorf-Inszenierungen verbracht hat.

Aber anders als den zahllosen Castorf-Imitatoren auf den Provinzbühnen dieser Welt ist es ihm gelungen, eine sehr eigene, zumindest im ersten Teil der Aufführung anstrengungslos hoch konzentrierte Form zu entwickeln. Der Überdruss, das gelähmte Leben im Stillstand ist hier weniger eine Erzählung als ein Zustand. Wie in einer Installation sind Tschechows Figuren der verfehlten Begegnungen und halb erstickten Sehnsüchte ausgestellt. Nicht nur der alte Volvo auf der Drehbühne bewegt sich hier end- und ausweglos auf den immer gleichen Kreisbahnen.

Diese Nähe zur Installation teilt Borgmanns Arbeit mit der ungewöhnlichsten Inszenierung des Theatertreffens, Susanne Kennedys „Fegefeuer in Ingolstadt“ von den Münchner Kammerspielen. Die Figuren aus Marieluise Fleißers hochartifiziellem Provinzhöllenstück sind hier zu Zombies ihrer selbst geworden, deren Stimmen gespenstisch von den Körpern getrennt sind. Für Fleißers Kunstsprache findet Kennedy eine glasklare, in ihrer atmosphärischen Dichte fast unheimliche Form.

Susanne Kennedy ist die Entdeckung dieses Theatertreffens. Und sie ist kein Berlinexport, aber demnächst ein Import, auf den sich die Stadt freuen kann. Im kommenden Jahr wird sie am Maxim-Gorki-Theater inszenieren.

Peter Laudenbach gehört der Jury des Berliner Theatertreffens an.

Peter Laudenbach

Zur Startseite