Alain Platel spielt "Tauberbach" in Berlin: Müll und Würde
Der belgische Theatermacher Alain Platel kommt mit seinem Stück „Tauberbach“ nach Berlin.
Wie lassen sich noch im absoluten Elend Schönheit und menschliche Würde entdecken? Und wie kann man das zeigen, ohne die Armut, den Schmerz, die seelische Verstörung zu verkitschen oder mit einem zynischen Voyeurismus als ästhetischen Reiz auszustellen? So intensiv wie vermutlich kein anderer zeitgenössischer Theaterkünstler sucht und untersucht der belgische Choreograf Alain Platel die Schönheit im vermeintlich oder wirklich Hässlichen und eine Wahrheit des Menschen in seinen Beschädigungen. Das eine, lernen wir in seinen Aufführungen, ist ohne das andere nicht zu haben. So hat Platels Theater immer auch etwas von einer anthropologischen Forschung, die dieses seltsame Tier, den Menschen, betrachtet. „Ich bin immer überrascht, dass es nicht mehr Wahnsinn gibt auf der Welt, dass die Menschen nicht noch mehr töten oder einfach verrückt werden“, hat der Choreograf einmal gesagt.
Alain Platel ist ausgebildeter Psychologe. Das kommt seinen Stücken zugute
Bis heute ist Platels Theater von seinem ersten Beruf geprägt. Der ausgebildete Psychologe arbeitete mit körperlich oder geistig „Behinderten“ – und er lernte von ihnen, dass die Wirklichkeit der mehr oder weniger Gesunden nur eine von vielen Möglichkeiten ist. In seiner Mozart-Bearbeitung „Wolf“ zum Beispiel spielten und sangen vor zehn Jahren zwei Gehörlose. Während der Entwicklung seines neuen Stücks „Tauberbach" besuchten er und seine Schauspieler ein Heim für schwerbehinderte Kinder – das war Teil der Probenarbeit. In „Iets op Bach“ (Etwas über Bach), einer seiner wichtigsten Arbeiten, wurde 1998 die Musik von Johann Sebastian Bach für die Bewohner einer Elendssiedlung, eine Truppe derangierter Artisten, zu einer sehr reellen Erfahrung. Wenn sie innehielten und einfach nur Bachs aus dem Nichts oder vom Himmel oder aus ihnen selbst kommende Musik hörten, hatte die Schönheit der Musik etwas von einem unabweisbaren Transzendenz- und Erlösungsversprechen.
Und wenn man sah, wie sehr die Menschen diese Musik brauchen, wie sie gleichzeitig auf Bach und in sich selbst hinein zu horchen schienen, war das ein Moment, der weit über kulinarischen Kunstgenuss hinausging. Er erzählte von den Möglichkeiten und Sehnsüchten dieser existenziell unbehausten Menschen, also von uns. Wer „Iets op Bach“ sehen konnte, wird die Aufführung sein Leben lang nicht vergessen. Ivan Nagel hat sich damals, beglückt von Platels unsentimental menschenfreundlicher Kunst, dreimal nacheinander das Gastspiel von Platels Compagnie „les ballets C de la B“ an der Schaubühne angesehen.
Auch in „Tauberbach“, Platels neuem Stück, das im Januar an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte und jetzt ins Hebbel-Theater kommt, spielt Bachs Musik eine wichtige Rolle. Allerdings kommt sie diesmal nicht in überirdischer Schönheit und Klarheit aus dem Off, sondern so verzerrt, beschädigt, verstümmelt, wie es das Leben der Menschen ist, die sie hören. Seit längerer Zeit ist Platel von einer seltsamen Aufnahme fasziniert, die ein Projekt des polnischen Künstlers Artur Zmijewski dokumentiert.
In der Leipziger Thomaskirche, in der Bach begraben liegt, hat Zmijewski einen Chor Gehörloser gebeten, Bach-Choräle zu singen. Ihr dissonanter Gesang geht über in unartikulierte Laute. Abstrakte Musik und ungeformte Körpergeräusche verschwimmen ununterscheidbar, die reine Form und Ablagerungen des Kreatürlichen kippen ineinander. Platel verwendet diese Aufnahmen neben anderen Bach-Einspielungen, etwa den Cellosonaten – daher der Titel: „Tauberbach“ ist tauber Bach.
Wie im Gesang der Gehörlosen die Kunst nicht vom beschädigten Leben und den Körpern zu trennen ist, so haben sich auch in die Bewegungen von Platels Tänzern Verstörungen eingeschrieben: Verzerrungen, verquältes Zucken, abrupte Bewegungswechsel, manische Wiederholungsschleifen, seltsame Beschleunigungen oder Zerdehnungen zeugen davon, dass diese Menschen nicht ganz Herr ihres Körpers und ihres Lebens sind. Auch hier gilt: Die Kunst, die Schönheit ist ohne Spuren des beschädigten Lebens nicht zu haben – und beide Seiten laden einander mit Bedeutung und Wahrheit auf.
Die Protagonistin lebt auf einer Müllhalde am Rand von Rio de Janeiro
Platels zweite wichtige Quelle bei diesem Stück ist „Estamira“, ein brasilianischer Dokumentarfilm von Marcos Prado. Prado beobachtet nüchtern, geduldig und frei von Sozialkitsch eine schizophrene Frau, die auf und von einer riesigen Müllhalde am Rande Rio de Janeiros lebt. Je länger der Film Estamira begleitet, desto selbstverständlicher wird das Leben dieser Frau, die sich in Schmutz und Elend, begleitet und verfolgt von den zahlreichen Stimmen in ihrem Kopf, eine eigene Wirklichkeit geschaffen hat.
Die Frage nach sozialem Ausschluss und gesellschaftlich akzeptierter oder definierter Normalität stellt sich irgendwann schlicht nicht mehr: Für Estamira ist genau ihre eigene, für uns unvorstellbare Wirklichkeit normal. Man sieht diesen Film natürlich nicht ohne Scham darüber, dass Menschen so leben müssen, auch nicht ohne Scham über die eigenen Abwehrreflexe. Aber gleichzeitig fängt man an, diese Frau zu bewundern, der es gelingt, trotz Krankheit ihre Würde zu bewahren.
Natürlich hat Platel nicht einfach eine Müllhalde auf die Bühne gekippt. Stattdessen bedeckt ein Berg alter Kleider den Boden, wie der Rest eines früheren Lebens oder Spuren des Wohlstands, der den Müllhaldenbewohnern so fern ist wie der Mond. Große Teile der Textpassagen seiner Inszenierung hat Platel aus Prados Dokumentarfilm übernommen, auch die Sätze, die Estamira in ihrem Kopf hört. Hier kommen sie als dunkle Männerstimmern aus dem Off.
Die Schauspielerin Elsie de Brauw spielt diese Estamira als große Stoikerin, der Larmoyanz fremd ist. Dass sie Stimmen hört, ist kein Grund, sich aufzuregen, sie muss eben mit diesen Stimmen leben. Ihr Verhältnis zu ihrem Leben auf der Müllhalde und ihrer Krankheit ist geprägt von souveräner Sachlichkeit.
Wenn sie irgendetwas nicht braucht, ist es Mitleid. Sie hat gelernt, sich aus dem Müll zu ernähren, und erklärt gerne, dass es dort alles gibt, was sie braucht. Fünf Tänzer aus Platels „les ballets C de la B“ sind der Bewegungschor, der dieser Protagonistin den Rahmen gibt, vielleicht die anderen Müllhaldenbewohner, vielleicht auch einfach die Menschen, die Estamira begegnen, ohne mit ihr in Kontakt zu kommen. Hier benutzt Platel die Sprache der Körper und die Sprache der Stimme, die sich mal verbinden, meist aber einander so fremd, voneinander so getrennt sind wie die Monadin Estamira von der menschlichen Gesellschaft.
Zu den schönsten Momenten der Aufführung gehört, wie die Gruppe der Tänzer und die Einzelgängerin Estamira einander wahrnehmen und in der unangetasteten gegenseitigen Fremdheit vorsichtig miteinander umgehen. Am Ende gönnt Platel ihnen (und uns) einen ungeheuer zerbrechlichen Moment des Glücks. Sie singen leise, fast unsicher, aber sehr klar zusammen einen Melodiefetzen Mozart, und man spürt, dass in ihnen ein berührbarer, unzerstörter, unverletzter Rest von Unschuld ist.
Peter Laudenbach ist Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens, zu dem „Tauberbach“ ebenfalls eingeladen ist. „Tauberbach“ läuft vom 4. bis 6.3. im HAU 1. Am 5. 3. gibt es im HAU 2 um 17. 30 Uhr die Podiumsdiskussion „Krise der großen Form?“ mit Alain Platel, Virve Sutinen, Bernd Kauffmann, Rüdiger Schaper, Colette Sadler, Moderation: Elisabeth Nehring.
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