Erstaufführung an der Deutschen Oper: Der Tod singt sich gut
Mit Klaus Maria Brandauer: „Morgen und Abend“, eine Oper von Georg Friedrich Haas nach Jon Fosse an der Deutschen Oper Berlin.
An dieser Stelle gleich eine Warnung: Besuchen Sie „Morgen und Abend“, die neueste Produktion an der Deutschen Oper Berlin, unbedingt mit einem Mindestmaß an guter Laune. Wer die nicht mitbringt, für dessen Wohlbefinden kann nicht garantiert werden. Dünn ist der Faden, der uns im Leben hält, und bei Georg Friedrich Haas ist er oft vollständig gekappt. Erneut hat der Österreicher, nach „Bluthaus“ und „Thomas“, eine Oper über den Tod geschrieben, sein siebtes Werk für die Bühne inzwischen und nach „Melancholia“ die zweite Vertonung eines Textes des norwegischen Autors Jan Fosse. Der gesamte Abend ist ein langes, auskomponiertes Sterben, viele der Figuren sind Dahingeschiedene. Typisch Oper eben.
Man sieht die beiden Musiker mit ihrem Schlagwerk links und rechts vom Orchestergraben, doch tun sie zunächst: gar nichts. Plötzlich infernalische Trommelschläge, die das Herz vor Schreck springen lassen und wegen ihrer unbehaglichen räumlichen Nähe niemanden im Publikum kalt lassen können. Es ist die Ouvertüre, zum Stück und zum Leben: Hier wird gerade ein Kind geboren, der Fischer Johannes. Haas und Fosse nehmen die menschliche Existenz von ihren beiden Extrempunkten in den Blick, überspringen die vielen und viel zu kurzen Augenblicke dazwischen, die wir „Leben“ nennen.
Sobald das Schlagwerk schweigt, beginnen die Streicher (musikalische Leitung: Michael Boder) mit einer schwebenden Quinte auf den leeren Saiten d und a, die den weiteren Verlauf des Abends prägen wird. Dazu der Chor und eine menschliche Stimme. Klaus Maria Brandauer sitzt einsam auf dem Stuhl, vor sich hinbrabbelnd, bramarbasierend. Er ist der Fischer Olai, im Nebenraum kommt sein Sohn Johannes zur Welt, was das Publikum aber nur indirekt mitbekommt, über die Schreie der Mutter. Immer wieder driftet Olai ab, verfällt in Schweigen. Sein von langen Pausen durchsetzter, wie ein- und ausgeschalteter Monolog wirkt gewissermaßen wie ein zusätzliches Musikinstrument.
Regisseur Graham Vick kleidet das Geschehen in minimalistisches Schwarz-Weiß
Die Szene ändert sich erst , als Sarah Wegener als Hebamme eintritt und zu singen beginnt: „Du hast einen Sohn, Olai“. Der gesungene Text wird im Hintergrund sichtbar, projiziert auf eine Leinwand (Video: 59productions). Die Lettern sind mehr als bloße Übertitel, sie kommentieren die jeweilige Figur, die gerade singt. Manchmal erscheinen sie mit zeitlicher Verzögerung, manchmal ist der Anfang des Satzes schon verschwunden, bevor das Ende aufleuchtet, manchmal stemmen sich die Buchstaben, brüchig und flackernd, gegen ihr Sichtbarwerden, heben sich nur mit Mühe und kaum entzifferbar von der Leinwand ab.
Regisseur Graham Vick und sein Bühnen- und Kostümbildner Richard Hudson haben das Geschehen bereits für die Erstaufführung in London und jetzt auch für Berlin in ein minimalistisches Setting gekleidet: Tür, Stuhl, Bett, ein Fischerboot, alles in blendendem Weiß, stark kontrastierend mit dem Schwarz rundum. Bald beginnen die Augen zu schmerzen, als würden sie ständig in eine von hinten erhellte, überbelichtete Fotografie blicken.
Haas’ Musik basiert auf exakt berechneten Prozessen, arbeitet mit den minimalen Intervallen der Obertöne und mit Mikroklängen, die die herkömmliche Unterteilung in zwölf Halbtöne weiter ausdifferenzieren. Auch wenn Haas, wie er sagt, „aus dieser Schublade herauskriechen“ will und in „Morgen und Abend“ nur an zwei Stellen tatsächlich Mikrotöne einsetzt. Der Zuhörer kann diese Strukturen kaum bewusst wahrnehmen, er muss es auch nicht. Was er hört, sind verschmelzende Harmonien, Klangfelder – Haas spricht von Klangwolken –, vage identifizierbare Soli und immer wieder Glissandi der Streicher, also ein gleitendes Sich-nach-oben-Schrauben der Tonhöhe. Was, da kein Endpunkt (keine Tonika) erreicht wird, sehr unbehaglich werden kann. Ein Effekt, den viele Komponisten – etwa Verdi – gerne genutzt haben.
"Morgen und Abend" fragt nach Todesvorstellungen, früher und heute
Umstandslos geht die Szene von Johannes’ Geburt in seinen Tod über. Jetzt schlägt die Stunde von Christoph Pohl, der mit markant-virilem, fast zu kräftigem Bariton einem Menschen seine Stimme verleiht, der schon gestorben ist – was der aber noch nicht weiß. Dem seine Frau Erna (Helena Rasker) begegnet, obwohl sie nicht mehr lebt, genauso wie sein Freund Peter (Will Hartmann). Johannes will ihm die Haare schneiden, ihn also seiner Vitalität berauben – nicht nötig. Seine Tochter Signe (wieder Sarah Wegener, die als Hebamme stärkere Akzente setzen konnte) sieht ihn nicht mehr, obwohl er mitten im Raum steht. Hier gewinnt die Musik, erstmals so etwas wie rhythmische Prägnanz.
Geliebten Menschen wieder begegnen, sich schwerelos fühlen und von außen betrachten, ins Licht schreiten – Fosse und Haas lassen keine gängige Todesvorstellung aus. Angenehm, dass das Ganze ohne religiöse Überhöhung auskommt. Eher handelt es sich um ein Gedankenexperiment: Wie blicken die, die schon vorangegangen sind, vom Ende des Tunnels her auf den Neuankömmling? Oder wird der Zuschauer nur Zeuge der berühmten letzten Sekunde, in der noch einmal alles Wichtige am Sterbenden vorüberzieht?
Die musikalischen Mittel in Haas' Partitur erschöpfen sich schnell
Das Problem: Graham Vicks Inszenierung, so behutsam sie sich Text und Musik auch nähert, verdoppelt letztlich deren (alp-) träumerischen Charakter nur und nimmt sich die Chance, eine eigene Position zu beziehen. Und wird diese harte, alle Zwischentöne ausmerzende Schwarz-Weiß-Ästhetik dem Wesen des Traums überhaupt gerecht, schimmern Träume nicht eher in unzähligen Ambivalenzen? Was die Partitur von Georg Friedrich Haas betrifft, wirken die musikalischen Mittel an diesem Abend begrenzt, erschöpfen sich in leerer Wiederholung. Vor allem der massive Glissandi-Einsatz im Mittelteil läuft sich schnell, nun ja, zu Tode. Die 90 Minuten, die das Stück dauert, sind keinesfalls zu kurz.
Deutsche Oper Berlin. Wieder am 3., 11. und 22. Mai, 19.30 Uhr