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Gut ausgerüstet: Susanne Fröhlich und Jan Gerdes im Berliner Hauptbahnhof.
© Doris Spiekermann-Klaas

Neue Musik im Hauptbahnhof: Zum Klang wird hier der Raum

Konzerte aufführen im lauten Hauptbahnhof - das geht. Am Mittwoch beginnt hier die sechste Ausgabe des Festivals „Ankunft: Neue Musik“. Zwei Musiker, die mitmachen, sprechen über das Wesen der Neuen Musik.

Einfach mal anhalten, die Augen schließen und zuhören. Macht man ja nicht so oft. Und braucht auch einen Moment der Überwindung. Gerade an einem Wimmelort wie dem Berliner Hauptbahnhof, wo alles transitorisch ist und ein Gefühl dominiert: nicht stehen bleiben zu dürfen. Deswegen sind auch kaum Bänke installiert.

Das Klangfundament: ein Grundsummen aus tausenden menschlichen Stimmen, von denen keine einzelne lokalisierbar ist, ein Rauschen und Zischen, als ballten sich unter dem Glasdach Myriaden von Insekten. Darüber legen sich Sprachfetzen, Ansagen: „Rauchen nicht gestattet ...“, „auf Gleis 5 fährt jetzt ein ...“. Fast schon wie ein Konzert, nur ohne jeglichen Kunstwillen, anarchisch. Die Rollkoffer, von denen man den größten Lärm erwartet hätte, enttäuschen. Holpern sie nicht über Rillen, machen sie kaum einen Laut. Dafür quietschen Bremsen, ins helle Sirren der anfahrenden S-Bahn mischt sich eine tiefere Note, der Basston des ICE. Alles wogt, nichts bleibt, wie es ist, panta rhei. Und ist doch nicht Musik. Weil es in keine bewusste Form gebracht ist.

Die kommt jetzt aber. Zum sechsten Mal veranstaltet die Zeitgenössische Oper Berlin das Festival „Ankunft: Neue Musik“. Mitten im Hauptbahnhof, auf Ebene 0. Elf Tage, 30 Veranstaltungen, zwei Dutzend Musiker. Darunter auch Blockflötistin Susanne Fröhlich und Pianist Jan Gerdes. Der kommt mit einem drolligen roten Kinderklavier unterm Arm zum Treffen, einem Toypiano aus dem Spielzeugladen. „Das war hier auch schon zu hören“, erzählt er. Nämlich in der „Suite für Toy Piano“ von John Cage. Mozart oder Brahms darf man auf diesem Festival nicht erwarten. Sondern Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Zeitgenössisches, Gegenwartsmusik. Die hier, im besten Fall, „ankommen“ soll.

Inzwischen zieht das Festival ein treues Stammpublikum an

Aber ist das nicht Wahnsinn? Ausgerechnet im Hauptbahnhof, wo niemand Zeit hat, und, wenn doch, die Töne in der Klangkulisse untergehen. Könnte man meinen. Das vom Leiter der Zeitgenössischen Oper, Andreas Rochholl, ins Leben gerufene Festival hat aber Erfolg und zieht inzwischen ein treues Stammpublikum an, das genau wegen dieser Atmosphäre kommt. Was also macht den Bahnhof so interessant für Neue Musik – und eben nicht für Mozart? „Zeitgenössische Musik will ja Räume aufbrechen, den traditionellen Musikbegriff erweitern, das Außen hereinholen – und arbeitet deshalb mit genau jenen urbanen Klängen, die man in Bahnhöfen vorfindet“, sagt Susanne Fröhlich. 2013 hat sie hier so ein Stück gespielt, „IRA“ (Zorn) der Berliner Komponistin Sarah Nemtsov, das direkt mit der Geräuschkulisse des Bahnhofs, sogenannten Field Recordings, arbeitet. Wenn die Stücke später an anderen Orten, auch im Konzertsaal, erneut aufgeführt werden, kommen die Klänge als Zuspielungen vom Band. Live-Elektronik, ein Wesensmerkmal Neuer Musik, das immer wichtiger wird. „Wenn sich unsere ganze Lebenswelt digitalisiert, warum sollten wir das nicht für die Kunst nutzen?“ meint Jan Gerdes. MAX/MSP heißt zum Beispiel die Programmiersprache, die Komponisten am häufigsten benutzen. Am 23. August (22 Uhr) wird Gerdes bei einem Soloauftritt Stücke von Luigi Nono und Georg Friedrich Haas spielen, der gerne Mikrotöne einsetzt. Auf der starren Tastatur des Klaviers wären sie ohne Unterstützung von Soundkarten und elektronischen Klangloops nicht realisierbar.

Susanne Fröhlich spielt am 26. August (22 Uhr) ein Stück des Berliner Komponisten Sebastian Elikowski-Winkler, das dieser direkt für den Hauptbahnhof geschrieben hat. Sie zeigt die Partitur auf ihrem Smartphone. „Jeder Klecks auf der Notenlinie bedeutet, dass ich eine Aktion ausführen muss.“ Neue Musik beschränkt sich schon lange nicht mehr aufs reine Musizieren, das Performative gehört dazu. Wie 2010, als Andreas Rochholl im Bahnhof György Ligetis „Nouvelles Aventures“ inszenierte und nicht nur die Sänger, sondern auch die Musiker als Darsteller gefordert waren. Bei Youtube kann man sich das noch anschauen. Auch Jan Gerdes hat damals mitgemacht.

Susanne Fröhlich und er leben beide als freischaffende Musiker in Berlin. Sie eint die Überzeugung, dass nicht nur Neue Musik, sondern Musik überhaupt neue Formen der Vermittlung braucht. Die ritualisierte, Konzentration überhaupt erst ermöglichende bürgerliche Konzertform, die wir heute kennen, war zwar im 19. Jahrhundert ein Fortschritt gegenüber den Zeiten, als Musik häufig nur ein Vorwand für Sauf- und Sexgelage war. Aber dieser Fortschritt ist heute zur Formel erstarrt. „Fragen Sie mal einen Besucher, woran er sich nach dem Konzert erinnert“, sagt Gerdes. „Er wird Ihnen alles mögliche nennen: das Kostüm der Solistin, vielleicht den guten Wein in der Pause. Die Musik kommt meistens an vierter oder fünfter Stelle.“ Deshalb tritt Gerdes, der aus Heide in Schleswig-Holstein stammt, gerne in Clubs auf (nicht in Berlin, aber in Köln und Düsseldorf), um den „Reichtum avancierter elektronischer Clubmusik mit anspruchsvoller Instrumentalmusik zu verbinden.“ Und auch Susanne Fröhlich, die aus Passau stammt und 77 Blockflöten ihr Eigen nennt, geht die Dinge gern anders an. Bei einem Auftritt in der Uckermark hat sie zum Beispiel Volkslieder aus der Zeit des 30-jährigen Krieges mit Originaltexten aus ebenjener Zeit kombiniert.

Geräusche gehören zum Material der Neuen Musik

„Es ist schwierig, die Menschen im Konzertsaal zu Neuer Musik zu zwingen“, sagt sie. Im Bahnhof werde vieles anders sein. „Wir werfen die Besucher in eine völlig ungewohnte Situation. Menschen, die das sonst nie tun würden, bleiben stehen und hören zu.“ Und schnappen sich einen Flyer. Gerade der unwahrscheinlichste aller Orte, der Bahnhof, erweist sich also als ideal, um Augen und Ohren für die Gegenwart zu öffnen, das Bauwerk als eines wahrzunehmen, das Geräusche produziert. Denn Geräusche gehören zum unverzichtbaren Material, mit dem die Neue Musik arbeitet. Man hört es dann, wenn Musiker ihre Instrumente nicht im klassischen Sinne gebrauchen.

Susanne Fröhlich verbindet inzwischen schöne Erlebnisse mit dem Hauptbahnhof. 2013 hat sie hier „Charavgi“ (Morgendämmerung) von Calliope Tsoupaki gespielt – um sechs Uhr in der Früh. Leere, Stille, nur wenige Menschen verloren sich in den Hallen. „Es war noch nichts los. Da habe ich erst mal gemerkt, wie fantastisch dieses Bauwerk klingen kann“, schwärmt sie.Der Bahnhof selbst wird zum Instrument. Jetzt muss sie aber los, zum Zug.

Das Festival "Ankunft: Neue Musik" eröffnet am Mittwoch, 19.30 Uhr, im Berliner Hauptbahnhof und dauert bis 30. August. Mehr Informationen: www.ankunftneuemusik.de

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