Inszenierung auf hohem Niveau: Wenn die Träume verschwinden
Der neue „Tristan“ an der Deutschen Oper: Chefdirigent Donald Runnicles erweist sich als Teamplayer mit viel musikalischer Ausdeutung und Kontakt zur Bühne.
Am Ende ist die Welle der Buhrufe gegen das Regieteam höher als jene schwarzen Wogen, die gegen die Wohnung des siechen Tristan anbranden. Der Held tapst ergraut darin umher, mit Pyjamahose und verdreckter Brille, den Finger in dementem Trotz erhoben. Ein Bär am Ende aller Jagden, eine massive, zerbrechliche Gestalt, wie sie ein Josef Bierbichler so bewegend verkörpern kann. Für den Liebestod ist hier kein Platz, zwischen steinalten Vasallen und den Schmerzen des überhaupt Geborenseins, an die einzig sich Tristan noch zu erinnern vermag.
Wer Wagner für voll nimmt, muss sich an der Deutschen Oper auf einen post- erotischen „Tristan“ gefasst machen. Hier geht es nicht ums verbotene Zündeln des Begehrens, sondern ums bewusste Löschen des Lebenslichts, nicht um Sehnsucht, sondern um Urvergessen. „Schopenhauers Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend“, schreibt der Komponist begeistert an Liszt. „Es ist die herzliche und innige Sehnsucht nach dem Tod: volle Bewusstlosigkeit, gänzliches Nichtsein, Verschwinden aller Träume.“ Furchtbar ernst, einzig erlösend – so hat Wagner den Eros in den Tod abgeschoben. Im Grunde ist dieser „Tristan“ völlig ungenießbar. Und muss doch aufgetischt werden, am liebsten opulent und dampfend – besonders, wenn die Neuinszenierung vom erklärten Wunschteam des Generalmusikdirektors Donald Runnicles arrangiert wird.
Graham Vick, der britische Regisseur, zieht an der Bismarckstraße viel von jener Empörung auf sich, die eigentlich dem Komponisten des „Tristan“ gelten müsste. Er sucht fassbar zu machen, wie es denn sein kann, dass sich der herrlichste Held und die strahlendste Frau nur noch auf den Tod verständigen können – und selbst ihn nicht gemeinsam erleben.
Im Einheits-Apartment-Bühnenbild von Paul Brown nistet die Trauer seit eh und je. Peter Seifferts Tristan hockt auf dem Sofa, seinen Blick starr auf den Sarg vor ihm geheftet. Ein Besessener, ein Egomane, alles andere als ein Sympathieträger. Die sind ohnehin nicht zu finden in Vicks Regie, der damit das rechte Gespür für Wagners ambivalente Helden beweist. Ohne aufzublicken und unendlich müde sucht er Isoldes verbale Attacken im ersten Akt rhetorisch ins Nichts ausrollen zu lassen. Gespannt verfolgt man diesen Stellungskrieg, parallel auch in den Übertiteln, denn dem Wahn des Wortes und seiner Umdeutungsenergien hat Vick große Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei schwebt eine Leuchte durch den Raum, die so aussieht, als würde sie Licht in die tiefsten Schichten des Meeres senden können. Ein Echolot im Traumaraum.
Peter Seiffert und Petra Maria Schnitzer sind Tristan und Isolde, ein Ehe- und Sängerpaar, das an der Deutschen Oper seinen ersten gemeinsamen „Tristan“ singt. Seiffert, der Routinier, nimmt sich weit zurück, agiert eingesunken, um lediglich jäh in trotziger Heftigkeit aufzufahren. Dabei gelingt ihm ein schieres Wunder an stimmlicher Ökonomie, das glaubhaft macht, dass hier einer nichts mehr beweisen muss. Schnitzers Debüt als Isolde ist wunderbar textgenau und verliert sich nie ins Wabern. Da singt keine Hochdramatische, die alles mit sich fortschwemmt, sondern eine Darstellerin von mitunter fast quecksilbriger Agilität. Mutwillig setzt sich dieses Paar die Todesspritze, dabei so sehr der Musik folgend wie kein Sühnetrank zuvor – und ist wahrhaft entsetzt davon, weiterleben zu müssen. Die letztgültige Umwandlung von Restbegehren in Todeslust vollzieht sich zu blauer Stunde auf dem Sofa, in intimster Zweisprache, so wie man eine lang ersehnte Reise plant.
Geschlossen ist dieser neue Berliner „Tristan“, nicht nur mit seinem Apartment der versehrten Lebenden. Die Sängerbesetzung fügt sich widerstandslos in Vicks Konzeption ein, in der auch ein angegriffener Eike Wilm Schulte der einzig passende Kurwenal sein kann. Kristinn Sigmundsson wuchtet einen bodenlosen König Marke auf die Bühne, Jane Irwins Brangäne klingt so gesund wie ihr Schuhwerk.
Und Donald Runnicles? Bei seiner ersten Wagner-Premiere an der Deutschen Oper gibt sich der GMD programmatisch als Teamplayer zu erkennen. Musikalische Ausdeutung, Kontakt zur Bühne, Verlässlichkeit auf hohem Niveau: Alles stützt die Inszenierung, dient ihr in einem Maße, wie man es nur selten in der Oper erlebt. Man spürt die Sorgfalt, mit der Runnicles sein Orchester aufgestellt hat, um ein Maximum an Durchhörbarkeit zu garantieren. Und wer nicht geblendet werden will, kann wirklich viel Unerhörtem gewahr werden, ohne in Strudel zu geraten. Dafür sind Runnicles Tempi zu gemessen und alle Hitzigkeiten zu sehr von einem kühlen Kopf kontrolliert. Es ist ein Ensembleabend mit Schwelgeverbot, aber mit großzügiger Teilhabe an Erfahrungen. Ein Angebot, das man nicht gering schätzen sollte.
Ein Witz besagt, dass „Tristan und Isolde“ mit Isoldes berühmten letzten Worten „unbewusst, höchste Lust“ die Lieblingsoper aller Psychoanalytiker sei. Vick und Runnicles enthüllen seine schmerzhafte Wahrheit – und lassen damit auch Unbehagen zurück. Mit Buhrufen wird es nicht abzuschütteln sein. Runnicles mag langsam ahnen, wie viel Standfestigkeit Berlin ihm abverlangen könnte.
Weitere Vorstellungen am 17., 22., 26. und 30. März sowie am 3. April.
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