Begegnung mit Aribert Reimann: Das Maß aller Dinge ist die Stimme
An diesem Sonntag eröffnet die Deutsche Oper Berlin mit der Urauführung „L’Invisible“ von Aribert Reimann ihre Spielzeit. Eine Begegnung mit einem der erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten
Eine Komponistenwohnung, wie man sie sich vorstellt: Gründerzeitbau in Schmargendorf, schönste West-Berlin-Lage, kein Computer weit und breit, nur ein kleiner Laptop, der verschämt und zugeklappt auf einem Stuhl liegt. Das Wesentliche geschieht hier von Hand, ein Stockwerk höher in der Mansarde, mit Blick bis zum Teufelsberg. Hier also wohnt Aribert Reimann. Der Hausherr empfängt im Schal. Nicht aus Stilgründen, sondern weil er erkältet ist. Kein Wunder, das Pensum des 81-Jährigen gebürtigen Berliners ist immer noch enorm. Er war in Wien, bei den Wiederaufnahmeproben seiner Oper „Medea“, die dort 2010 mit großem Erfolg uraufgeführt wurde. Die Wiederbegegnung war ein ergreifendes Ereignis für ihn: „Ich habe zugelassen, mich zu erinnern“, erklärt er. Ein typischer Reimann-Satz.
Bis zur Decke sind die Wände der Wohnung mit Büchern gepflastert. Sie entwickeln eine eigene Schwerkraft, eine Präsenz an diesem Ort, wie gute Freunde. Und sie sind die Quelle von Reimanns Lebenswerk. Klassiker hat er vertont, Weltliteratur, immer wieder: „Das Schloss“ von Franz Kafka, „Bernada Albas Haus“ von Federico García Lorca, „Medea“ von – nein, nicht Euripides, aber von Franz Grillparzer. Daneben: Orchesterstücke, Kammermusik, Lieder. Die Opern sind der Kern seines Ruvres, die menschliche Stimme das Maß aller Dinge für ihn.
Die Deutsche Oper hat seine Karriere als Komponist mitgeprägt
Jetzt steht die Urauführung von „L’Invisible“ an, seiner neunten Oper, aus drei Kurzdramen von Maurice Maeterlinck. Die Deutsche Oper Berlin eröffnet damit an diesem Sonntag um 18 Uhr ihre diesjährige Spielzeit. Ein Haus, das Reimanns Leben mitgeprägt hat. Hier hat er 1955 als Korrepetitor begonnen, insgesamt vier seiner Bühnenwerke wurden entweder hier uraufgeführt oder mit Sängerinnen und Sängern der Deutschen Oper wie Martha Mödl realisiert.
Reimann erlebt, was im 21. Jahrhundert selten einem Komponisten vergönnt ist: Dass sein Werk Breitenwirkung entfaltet, ins Repertoire eingeht, in immer neuen Inszenierungen ausgedeutet wird. Allen voran natürlich „Lear“, sein größter Erfolg, 1976 in München uraufgeführt und seither 28 Mal inszeniert, wie er sofort auswendig weiß. Allein 2017 wurde „Medea“ neben der Wiener Wiederaufnahme auch in Berlin an der Komischen Oper neu inszeniert, ebenso „Lear“ bei den Salzburger Festspielen, außerdem „Die Gespenstersonate“ nach Strindberg an der Berliner Staatsoper – und jetzt „L’Invisible“, inszeniert von dem jungen russischen Regisseur Vasily Barkhatov.
Die titelgebende Unsichtbare ist eine grausame Königin oder Großmutter aus dem dritten Drama. Sie lässt einen Jungen, Tintagile, entführen von Dienern, die Reimann als Countertenöre gestaltet hat. Wenn er einen Stoff vertont, muss er mit unserer Gegenwart zu tun haben, anders geht es nicht, sagt er. Was heißt das für „L’Invisible“? „Jeden Tag werden Menschen auf irgendeinen Befehl hin ermordet“, erklärt er. „Jemand fährt in eine Menschenmenge, und wir wissen nicht, wer die Auftraggeber sind. Sie sind unsichtbar, so wie hier.“ Alles sei sehr mystifiziert und poetisch. „Banalität kann ich nicht komponieren.“
weitere Aufführungen am 18., 22., 25. und 31. Oktober, Deutsche Oper Berlin