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Zwei Politiker, eine Obsession. Seehofer (CSU ) und von der Leyen (CDU) tragen zur steilen Karriere des Heimatschutzes bei.
© Michael Kappeler

Geht es um Grundwerte? Oder Rassismus?: Der Siegeszug des Heimatbegriffs gefährdet die europäische Demokratie

Überall wird über Heimat geredet. Das spielt Diktatoren wie Erdogan in die Hände - und verdeckt das eigentliche Problem. Die Eröffnungsrede zur wissenschaftlichen Konferenz des Herbstsalons.

Das Motto des diesjährigen Herbstsalons im Maxim Gorki Theater ist inspiriert von der Arbeit der Politologin Bilgin Ayata, die an der Universität Basel lehrt. Derzeit ist sie Mercator Fellow an der FU Berlin. Mit ihrer Rede eröffnet sie die begleitende wissenschaftliche Konferenz des Herbstsalons.

Meine Forderung nach Deheimatisierung ist eine Einladung, über Zugehörigkeit und Gesellschaft jenseits verklärter Heimatrhetoriken neu nachzudenken.

Wie dringlich eine Intervention wie der Herbstsalon des Maxim Gorki Theaters ist, zeigen die gegenwärtigen politischen Entwicklungen. Das parteiübergreifende Wettrennen um die Deutungshoheit des emotionalen und politisch aufgeladenen Heimatbegriffs fand mit der Institutionalisierung eines Heimatministeriums seinen vorläufigen Höhepunkt.

Und der Siegeszug des Heimatbegriffs nimmt weiter Fahrt auf.

Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte an, das bisherige Ressort „Migration, Innenpolitik und Staatsbürgerschaft“ unter ihrer Präsidentschaft in „Schutz unserer europäischen Lebensweise“ umzubenennen – ein europäischer Heimatschutz gewissermaßen.

Dass die Verteidigung „unserer Art, wie wir leben“ ein Herzstück der Heimatpolitik ist, hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer bereits 2018 in einem „FAZ“-Artikel hervorgehoben.

Ein Begriff wird missbraucht. Migrationsforscherin Bilgin Ayata.
Ein Begriff wird missbraucht. Migrationsforscherin Bilgin Ayata.
© picture alliance / dpa

Von Bayern über Berlin nach Brüssel: Die steile Karriere des Heimatministeriums ist bemerkenswert. Jenen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die lautstark die Umbenennung des Ressorts als rechtspopulistische Anbiederung kritisierten, entgegnete von der Leyen, es gehe doch um den Erhalt der Grundwerte, die im Artikel 2 des Lissabonner Vertrags festgeschrieben sind.

Dass aber die europäische Migrationspolitik diese Werte tagtäglich verhöhnt und missachtet, gehört zu jener Verdrehung von historischen und gegenwärtigen Bedeutungszusammenhängen, wie die Heimatpolitiker*innen sie uns weismachen wollen.

Meine Forderung nach einer Deheimatisierung politischer Diskurse und Referenzrahmen nimmt diese Verkehrung als Ausgangspunkt, um die den Heimatdebatten zugrunde liegenden Machtverhältnisse begreifbar zu machen.

Dass die Bundesregierung acht Jahre nach der Aufdeckung der NSU-Morde und von dessen Umfeld im neonazistischen Thüringer Heimatschutz auf ein Heimatministerium und nicht auf ein Ressort zur Rassismusbekämpfung setzt und landauf, landab über den Heimatbegriff und dessen Notwendigkeit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer pluralen und globalisierten Welt debattiert wird, all das ist nur möglich, weil beim Thema Rassismus ausgeblendet, abgelehnt und abgelenkt wird.

Es gibt einen affektiven und kognitiven Widerstand dagegen, sich mit Rassismus als gesamtgesellschaftlichem, politischem, aber auch persönlichem Problem auseinanderzusetzen. Egal, wie viele Menschen noch ermordet, wie viele rassistische, verbale und physische Angriffe registriert werden und wie viele Belege für institutionellen Rassismus vorliegen, die Reaktionen gehen häufig nicht über „Schock“, „Alarmzeichen“, „Betroffenheit“, „Fassungslosigkeit“ hinaus.

Diese Weigerung, den eigenen Rassismus in den Blick zu nehmen, ist eine offene Wunde, die gerne mit Heimatromantik versorgt wird. Zum Beispiel während der Nachkriegsjahre, in denen sich idyllische Heimatfilme und -romane großer Beliebtheit erfreuten.

Oder eben jetzt, wo dem Anstieg einer enthemmten verbalen und physischen rassistischen Gewalt der Wohlfühlbegriff Heimat entgegengesetzt wird, statt sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.

Heimat als Gegenbegriff zur Aufklärung

Schon seit dem 18. Jahrhundert, so der Germanist Peter Blickle, gehört „Heimat“ zum Gefühlsinventar eines inneren deutschen Selbstfindungsdiskurses. In seiner kritischen Ideengeschichte zeigt Blickle auf, wie sich der Begriff im Zuge der Modernisierung und Urbanisierung von einer administrativen und rechtlichen Bezeichnung zu einer emotionalen, identitätsstiftenden Metapher entwickelt hat.

Insbesondere als Gegenreaktion zur Aufklärung fungiert Heimat metaphorisch als ein Rückzugsraum, der eine selbstbestätigende, konfliktfreie Komfortzone verspricht.

Doch selbst in der kritischen Heimatforschung wird die Rolle von Heimat in der deutschen Kolonialpolitik vernachlässigt. Heimat diente als affektive Bindung nicht nur zwischen dem Lokalen und dem Nationalen, sondern auch zwischen Deutschland und seinen Kolonien in Afrika und Asien, als flexibler und dynamischer Begriff, der Grenzen überschreitet.

In Zeitschriften wie „Kolonie und Heimat“ war es möglich, den Kilimandscharo als den „höchsten aller deutschen Berge“ zu bezeichnen, wie der Historiker Jens Jäger zeigt, und den Heimatbegriff systematisch auf die Kolonien auszudehnen.

So konnte eine affektive Kernbindung zwischen Kolonie und Metropole hergestellt werden, die die Gewalt des Kolonialismus mit Heimatrhetorik überlagert. Der Heimatbegriff hat also auch eine externe Dimension.

Die europäische Heimatpolitik und der türkische Angriffskrieg in Nordsyrien

Aktuell lässt sich die externe Dimension von Heimatpolitik in der völkerrechtswidrigen Besetzung und im Angriffskrieg der Türkei gegen die Kurden in Nordsyrien beobachten. Hier hat die deutsche und europäische Migrationskooperation mit der Türkei eine Scharnierfunktion inne.

In Vorbereitung der Invasion verfolgte Recep Tayyip Erdogan diesen Sommer zuerst die syrischen Geflüchteten in der Türkei, gleichzeitig lockerte er die Bewachung der Küstengrenze auf. Im August verzeichneten griechische Inseln erneut hohe Ankunftszahlen von Geflüchteten.

Anfang Oktober reiste Horst Seehofer in die Türkei, um den sogenannten „Flüchtlingsdeal“ mit der Türkei „zu retten“. In höchsten Tönen lobte der Innenminister die Türkei für die Aufnahme von Geflüchteten. Diese Anstrengung werde in die Weltgeschichte eingehen. Seinem türkischen Amtskollegen sicherte er die deutsche Bereitschaft zu, jedweden Beitrag zu leisten.

Ob auch die zuvor von Erdogan angekündigte Zwangsumsiedlung von syrischen Geflüchteten in kurdisch kontrollierte Gebiete besprochen wurde, ist nicht bekannt. Einige Tage später marschierte Erdogan in Nordsyrien ein und setzte unter den Augen der internationalen Gemeinschaft seine Vorhaben der ethnischen Säuberung und Zwangsumsiedlung fort.

Zwar haben die EU-Außenminister einen beschränkten Waffenlieferungsstopp an die Türkei beschlossen, doch eine Aufkündigung des Flüchtlingsdeals und weitere Maßnahmen bleiben aus.

Auch Seehofer hüllt sich in Schweigen. Die Drohung Erdogans, die syrischen Geflüchteten nach Europa zu entsenden, hat offensichtlich mehr politische Wirkung als die Gefahr der Wiedererstarkung des IS für den Fall, dass inhaftierte IS-Kämpfer durch die Invasion freikommen.

Die Opfer dieser Politik sind die Menschen in Rojava. Sie haben inmitten eines Bürgerkrieges ein radikal demokratisches Gesellschafts- und Verwaltungsmodell aufgebaut, das Feminismus, Pluralität, Nachhaltigkeit und demokratische Selbstbestimmung ins Zentrum stellt.

Ein Scheitern dieses Projekts hätte nicht nur Folgen für die Kurd*innen und die Region. Rojava steht auch für den Versuch, einer von Rassismus konturierten Heimatpolitik eine Alternative entgegenzusetzen. Diese Alternativen benötigen wir überall dort, wo unter dem Vorwand der Migrations- oder Terrorismusbekämpfung demokratische Grundrechte und Völkerrechtsprinzipien missachtet werden. Sei es in der Türkei, in den USA oder in Europa.

Bilgin Ayata

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