Zeichnungen von Raffael: Der Liebliche
Feine Linie, großes Kino: Die Wiener Albertina breitet Raffaels zeichnerisches Werk aus und lässt den Künstler im neuen Licht erscheinen.
Träumerisch blickt der junge Mann den Betrachter an, den Kopf leicht zurück gewandt, das Kinn gereckt. Die sanften Augen, die feine Nase, der sinnliche Mund – all das zeugt von einem empfindsamen Gemüt, Liebenswürdigkeit. Von Malerpranke, genialischem Übermut keine Spur. Dennoch wird Raffael zu diesem Zeitpunkt in den Dokumenten längst als selbstständiger Meister geführt. Schon damals reicht seine Vorname zur Bezeichnung aus, er ist eine Marke und gefragt.
Der 26-Jährige steht 1506 kurz vor dem Sprung von Florenz nach Rom, wo er seine Karriere mit den größten Aufträgen bekrönen wird: der Ausmalung der päpstlichen Gemächer, der Bauleitung des Petersdoms. Ob es an dieser Überbelastung lag, der Selbstüberforderung eines zu sensiblen Typs oder – wie auch vermutet wird – einem liederlichen Leben, dass der Künstler mit gerade einmal 37 Jahren stirbt, ist bis heute nicht geklärt. Das Zarte und das Große, den Feingeist und die kreative Kraft – all das versucht man vergeblich in dem Selbstporträt aus den Uffizien herauszulesen. Es muss Geheimnis bleiben. Wie könnte es auch anders sein, über ein halbes Jahrtausend nach seinem Tod.
Und doch gibt es nun in Wien Gelegenheit, dem Maler auf die Spur zu kommen, diesen Ausnahmekünstler geradezu intim kennenzulernen. Die Albertina zeigt 130 Zeichnungen, dazu 20 Gemälde. Die Zeichnungen sind nur der Weg, die Vorbereitung zum makellosen, endgültigen Werk. Sie verraten Raffaels rastloses Suchen nach kompositorischen Lösungen, seine immer wieder neuen Ansätze für bestimmte Posen, sein begnadetes Talent. Plötzlich erscheint dieser neben den beiden anderen Renaissance-Titanen Michelangelo und Leonardo so Liebliche in einem neuen Licht. Während die beiden älteren Künstlerkollegen als kolossaler, als universaler gelten, erschien Raffael neben ihnen immer wie ein Leichtgewicht, feiert er doch mit seinen Werken vor allem die Schönheit und Harmonie, in den Marienbildnissen die Zartheit und Poesie.
Ein Verhaltensforscher ist hier am Werk
Für seine Rezeption sollte das nicht nur von Vorteil sein. Heute wird Raffael vielfach als harmlos abgetan. Seine Madonnen wirken einfach zu vollendet, die immer wiederkehrende Dreieckskomposition aus Maria mit dem Kind, der gefällige Dreiklang aus rotem Kleid, blauem Mantel und hellem Inkarnat scheint zu perfekt. Wie ungerecht dieses Urteil ist, auch davon handelt die von der Albertina und dem Ashmolean Museum in Oxford gemeinsam erarbeitete Schau. Zusammen haben die beiden Häuser den größten Besitz an Raffael-Zeichnungen weltweit, höchste Zeit, die Bestände einmal zusammenzulegen und für eine Ausstellung um großartige Leihgaben aus dem Louvre, der Berliner Gemäldegalerie, dem Prado, den Uffizien zu ergänzen.
Heraus kommt ein Künstler, der unermüdlich die Regungen und Bewegungen seiner Figuren mit Feder, Kreide, Kohle, Metall- und Silberstift durchprobiert, bevor er sich auf ihre endgültige Platzierung auf der Leinwand festlegt. Der Betrachter erlebt hautnah den Entstehungsprozess, die Etappen bis zum Meisterwerk. Mehr noch als das fertige Gemälde gehen hier seine Studien für die „Madonna im Grünen“ zu Herzen, in denen er die Haltung der Mutter zum Kind millimeterweise verschiebt, um einen Moment größter Nähe, aber auch Lebendigkeit zu erfassen. Ein Psychologe, ja Verhaltensforscher ist hier am Werk.
Anders als bei Dürer, der seine Zeichnungen auch als eigenständige Kunstwerke begriff, dienten Raffael diese Papierarbeiten immer nur als Mittel zum Zweck. Das lässt sich nicht zuletzt an den Durchstechungen der Blätter erkennen, durch die der Künstler Kohlepulver auf ein darunterliegendes Blatt rieseln ließ, um sie so zu kopieren. Trotzdem wusste Raffael um ihren Wert, wie eine Schenkung 1515 an den von ihm verehrten Dürer belegt, die sich heute im Besitz der Albertina befindet: „Zwei Männerakte mit Kopfstudie“, eine Vorarbeit für die „Schlacht von Ostia“ in den vatikanischen Stanzen. Dürer notierte eigenhändig daneben, der Kollege habe das Blatt nach Nürnberg geschickt, um „I(h)m sein hand zu weisen“. Raffaels Zeichnungen waren zu diesem Zeitpunkt bereits bei Sammlern hoch begehrt.
Suche nach der absoluten Schönheit
So zart und fein die Lineaturen auch sind, sie vermögen dennoch großes Kino zu entfesseln. „Der bethlehemitische Kindermord“ stellt auf wenigen Zentimetern ein Drama dar. Von links entreißt ein Häscher mit gezücktem Schwert einer fliehenden Mutter das Kind, rechts versucht eine andere, den tödlichen Schlag mit der Hand noch abzuwehren. Aus der Bildmitte stürzt eine Frau mit vor Horror verzerrtem Gesicht dem Betrachter frontal entgegen, in den Armen trägt sie einen leblosen Säugling. Den zwischendurch auf einem anderen Blatt rechts eingefügten Soldaten, der einer weiteren fliehenden Mutter von hinten in den Rücken sticht, hat Raffael später weggelassen. Diese Figur hätte ein Übergewicht des Personals zur einen Seite hin bedeutet. In der endgültigen Fassung, die durch den Kupferstich von Marcantonio Raimondi Verbreitung fand, ist das Wüten geradezu harmonisch ausbalanciert.
Als Renaissance-Künstler suchte Raffael bei aller angestrebten Natürlichkeit für seine Figuren dennoch das Ideal, die absolute Schönheit. „Die Natur hatte Angst, als Raffael lebte, vor seinem Sieg; als er starb, dass sie sterbe mit ihm“, steht in Latein auf dem antiken Sarkophag im Pantheon in Rom, in dem er auf eigenen Wunsch bestattet wurde. Die Grabinschrift fasst seine künstlerische Maxime zusammen: die antikische Überhöhung. In den Zeichnungen kehrt jedoch das pulsierende Leben noch einmal zurück. Hier glaubt man, das Liebenswürdige, das Zugewandte in den Zügen des jungen Malers aus seinem Selbstporträt von 1507 wiederzuentdecken.
Eine rare als Karton erhaltene Darstellung
Die Darstellung eines Pferdekopfes in Lebensgröße – ein Detail des himmlischen Reiters aus der „Stanza di Eliodoro“, dem päpstlichen Audienzzimmer – ist als Karton erhalten: eine absolute Rarität, denn dieser diente den Helfern dazu, das Werk 1:1 auf die Wand zu übertragen. Als reines Arbeitsmaterial überstanden nur wenige Kartons. Raffael hat hier alles mit schwarzer Kreide ausgeführt – die Nüstern sind aufgebläht, die Augen glühen, die Adern treten hervor, die Mähne weht im Wind.
Allein dieser Ausschnitt, nur der Pferdekopf, verrät, dass sich das Ross im vollen Galopp befindet, der Reiter sein temperamentvolles Tier nur mühsam mit den Zügeln bändigen kann. In den päpstlichen Gemächern aber ist es am Ende als eleganter Schimmel ausgeführt, der einen edlen, wenn auch grimmigen Reiter auf seinem Rücken trägt.
Albertina, Wien, bis 7. Januar; tägl. 10 – 18 Uhr, Mi / Fr bis 21 Uhr. Katalog (Hirmer Verlag) 29,90 bzw. 49,90 €.
Nicola Kuhn
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