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Bibel und Gegenwart. „Muttergottes der Göttlichen Liebe“ (1516).
© Museo di Capodimonte, Neapel / 2007 Musée du Louvre, Angèle Dequier

Das Genie Raffael: Meister aller Klassen

Und die Werkstatt ist immer dabei: Der Madrider Prado untersucht das Spätwerk Raffaels.

Während die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin daran denkt, die Gemäldegalerie kurzerhand der Kunst des 20. Jahrhunderts zu widmen und die Alten Meister in ein langjähriges Dauerprovisorium zu schicken, nimmt das Interesse an der Kunst des 15. bis 18. Jahrhunderts erkennbar zu. Zumindest hat es eine solche Dichte herausragender Veranstaltungen zur Kunst Alter Meister, wenn überhaupt, lange nicht gegeben. Nach Leonardo in zwei einander ergänzenden Übersichten in London und Paris ist jüngst „Der junge Dürer“ in Nürnberg eröffnet worden (Tsp. vom 29. Mai), und nun ist es der Prado in Madrid, der Raffael, dieser Verkörperung der Hochrenaissance schlechthin, eine atemberaubende Ausstellung widmet.

„Der späte Raffael“, so ihr Titel, meint das reife malerische Werk des 1520 an seinem 37. Geburtstag verstorbenen Künstlers, den Kern und Höhepunkt des Lebenswerks. Das geht weit über die Tafelmalerei hinaus. Hinzu kommt der Wandmaler im Vatikan und sogar der kurzzeitige Architekt der Dauerbaustelle Petersdom, doch bleiben diese zweifellos zeitintensiven Seiten in Madrid außen vor.

Denn das Anliegen der Ausstellung ist weniger eine Darstellung von Raffaels Arbeit ab seinem 30. Lebensjahr, als mit dem neuen, 1513 gewählten Medici-Papst Leo X. ein neuer Auftraggeber den Mittelpunkt des künstlerischen Geschehens in Rom einnimmt. Vielmehr geht es der von den beiden Experten Tom Henry und Paul Joannides bearbeiteten Übersicht vorrangig um die Feinjustierung der Werkstattarbeit und die Anteile, die Raffaels wichtigste Assistenten Giulio Romano (1499–1546) und Gianfrancesco Penni (um 1496–1528) am unablässigen Strom der Gemälde hatten.

Das klingt sehr nach einer hochspezialisierten Arbeit. Doch die spielt sich im voluminösen Katalog ab. Der brilliert in klassischer Kunstwissenschaft, erwägt alle Thesen zur Autorschaft der zumeist in der bis zu 50 Mitarbeiter (!) umfassenden Raffael-Werkstatt entstandenen Gemälde, sieht Einflüsse hier und Vorbilder dort und zeigt dann anhand von Raffael- Zeichnungen auf, wie stark jeweils der Meister selbst involviert war.

In der Ausstellung ist diese Feinjustierung nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Wohl aber erschließt sich durch die atemberaubende, 44 Gemälde und 28 der empfindlichen Zeichnungen umfassende Ausstellung, wie sich gegen Ende von Raffaels Leben eine neue künstlerische Sprache herausbildet. An deren Formulierung ist vor allem Giulio Romano beteiligt. Man kann es geradezu als Frucht dieser kaum je wiederholbaren Konzentration auf die sieben letzten Jahre Raffaels bezeichnen, dass Romano als dessen Erbe klar hervortritt. Bekannt ist er durch sein gesamtkünstlerisches Meisterwerk des Palazzo del Te bei Mantua, nicht jedoch als der bevorzugte Schüler des genialen Raffael.

Dazu hat der Ältere selbst den entscheidenden Hinweis gegeben: Mit dem Doppelbildnis von 1519, in dem er sich selbst und seinen besten Schüler vereint. Das Gemälde beschließt die Ausstellung. Es ist Raffaels Vermächtnis, der hier, als reifer und erkennbar von der Last seiner Aufgaben gedrückter Mann dem gerade einmal 20-jährigen, voll erblühten Giulio väterlich die Hand auf die Schulter legt. Der Jüngere weist mit der rechten Hand nach vorn, in Richtung des Betrachters, als wolle er den künftigen Weg der Kunst weisen, von dem der Ältere beinahe eher noch weiß denn ahnt, dass er ihn nicht mehr wird mitgehen können.

Mit einer solchen Interpretation ist Raffaels Leistung in der Porträtmalerei angedeutet. Er hat sie auf eine neue Ebene der psychologischen Durchdringung gehoben, wie an dem wunderbaren Bildnis des provozierend lässigen Jung-Bankers Bindo Altoviti (um 1516/18) deutlich wird oder dem des verschlagenen Machtmenschen Lorenzo de’Medici, der mit Hilfe seines päpstlichen Onkels den Herzogtitel von Urbino an sich gerissen hatte, bis er 1519, bald nach seinem Konterfei, überraschend verstarb.

Grandioser Höhepunkt ist das in braun-schwarzer Palette ganz untypisch verhaltene Bildnis des Humanisten Baldassare Castiglione (1519), der sich in einer gemeinsam mit dem eng befreundeten Raffael verfassten Denkschrift für die Erhaltung der römischen Altertümer stark machte. Die Porträts stehen am Ende des Ausstellungsrundgangs, sind sie doch überwiegend privater Natur und kamen in diesen Fällen erst dann auf die Staffelei, wenn die großen Kirchenaufträge bearbeitet waren.

Bildnis des Baldassare Castiglione (1519).
Bildnis des Baldassare Castiglione (1519).
© Museo di Capodimonte, Neapel / 2007 Musée du Louvre, Angèle Dequier

Ihre Hauptarbeit leistete die Riesenwerkstatt mit den Bestellungen biblischer Geschichten in Gestalt von Altar- und Andachtsbildern. Darin war Raffael gleichermaßen erfinderisch wie vollendet. Nicht Raffael allein, aber er in einem zuvor nicht gekannten Maße belebt und dramatisiert das Geschehen, das die Bibel berichtet. Er formt aus der Überlieferung handfeste Geschehnisse.

Wenn etwa die Hl. Cäcilie in einer Vision himmlische Musik vernimmt, dann schauen ihre Begleiter betreten und ratlos auf die irdischen Musikinstrumente, die mit einem Mal zerbrochen zu ihren Füßen liegen. Sie hören die Sphärenklänge nicht, wie das Gemälde an der Haltung der Köpfe erkennbar macht. Oder Christus bricht unter der Last des Kreuzes zusammen, während die Söldner heftig an ihrem Opfer zerren.

Der Einfluss des Nordens ist gerade in diesem Gemälde ebenfalls von 1515/16 spürbar, wo sich Raffael unmittelbar auf den berühmten Holzschnitt Dürers aus der „Großen Passion“ von 1499 bezieht. Dass Raffael Dürer-Holzschnitte als Vorbild und Ansporn in der Werkstatt aufhängen ließ, berichtet schon Vasari in seinen „Viten“. Auch die kräftige Lokalfarbigkeit ist nicht Raffaels ureigene Erfindung. Übrigens kam das Altarbild für eine Kirche in Palermo, wie so viele weitere Werke, später nach Madrid: Sizilien stand wie der ganze Süden Italiens lange unter spanischer Herrschaft.

Der Malaria-Tod Raffaels am 6. April 1520, in Rom als Tod der Kunst schlechthin betrauert, entließ vor allem Giulio Romano in die künstlerische Eigenständigkeit. Schon als Jugendlicher in die Werkstatt eingetreten, eignete er sich Raffaels Stil am stärksten an. Die Aktdarstellung einer im Gesicht gar nicht mehr jugendlichen „Frau mit Spiegel“ (1523/24) zeigt dieselbe psychologische Beobachtungsgabe wie sein Lehrmeister, sie lässt ahnen, wie sehr er das äußerlich glanzvolle Leben in Rom durchdrungen hatte. Und wie schnelllebig die Zeit war, auch das.

Die kleinformatigen Madonnenbilder, die den mittleren Bereich der Madrider Ausstellung füllen, gehören zu den Markenerzeugnissen der Werkstatt. Gewiss sind Meisterwerke darunter, wie etwa die „Muttergottes der Göttlichen Liebe“, an der wohl die Werkstatt beteiligt war.

Doch insgesamt wurden die Madonnen in Serie produziert – und machen in ihrem weichen Schmelz verständlich, warum Raffael bis zu den deutschen Nazarenern Anfang des 19. Jahrhunderts als „der Göttliche“ verehrt wurde. Später geriet Raffael mehr und mehr in die Kritik. Bei ihm, so der nun wieder etwas härtere Zeitgeschmack, sei der Keim zu jener Sirupsüße gelegt, die Nachahmer in allen Kirchen verbreiteten.

Daran hatte Giulio Romano zunächst seinen Anteil. Bald aber entwickelte er einen „unklassischen“ Stil, lange Zeit unter dem wolkigen Begriff des Manierismus geführt. Körperdrehungen in bisweilen anatomisch gewagter Weise, künstlich wirkende Beleuchtung, fahle Farben anstelle des kräftigen Lokalkolorits, das Raffael oft verwendete: Das wird in Madrid an der „Geißelung“ oder der „Beschneidung“, beide von Giulio bald nach Raffaels Tod gemalt, bereits erkennbar. Wie stark die Manierismus genannte Abkehr von den harmonischen Prinzipien der Hochrenaissance bereits zu Lebzeiten Raffaels gediehen war, wäre Thema für eine weitere Ausstellung der jetzt im Prado erreichten Güteklasse.

Und der andere Assistent, Gianfrancesco Penni? Er kommt bei den Ausstellungskuratoren nicht allzu gut weg. Seine „Heilige Familie mit Johannes und Katharina“ von 1522 wird im Katalog als bloße Figurenansammlung geschmäht, wo Raffael, auf den sich der Schüler explizit bezieht, eine „übergreifende Handlung“ dargestellt habe. Nun, das sind Geschmacksurteile, die sich auf kleine Schwächen stützen – einen zu langen Arm oder mangelnde Tiefenräumlichkeit. Als ob sich das bei Raffael nicht ebenso finden ließe! Wenig später wurde es zur maniera, die Realität ein wenig zu verdrehen: Der Manierismus war geboren.

Dennoch – Raffael überragt seine Mitarbeiter und Nachschöpfer um mehr als Haupteslänge. Auch wenn die Ausstellung das riesige Altarbild der „Verklärung Christi“ von 1516 (Vatikan), das ehrgeizigste Tafelbild Raffaels, nur in (mäßiger) Kopie zeigen kann – die Übersicht des Prado legt eindringlich nahe, das reife Werk des Malers aus Urbino mit frischem Blick zu sehen. Und das nicht trotz, sondern durchaus auch wegen der nie ganz zu entschlüsselnden Mitarbeit der vielköpfigen Werkstatt.

Madrid, Prado, bis 16. September. Täglich 10–20, So bis 19 Uhr. Eintritt 12/6 €. Anschließend Paris, Louvre, 8. Oktober bis 14. Januar 2013. Katalog in spanischer oder englischer Sprache, 384 S., 35 €.

Bernhard Schulz

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