Kultur: Göttlich, genial und fleißig
Wie Raffael den Gipfel der Malerei erreichte: das Frühwerk in der Londoner National Gallery
Es ist nicht groß. Es ist nicht auffällig. Und doch rankt sich um das kleinformatige Gemälde der „Madonna mit den Nelken“ eine der heftigsten Museumskontroversen der jüngsten Zeit. Denn Raffaels Gemälde, entstanden etwa 1506/07 in seiner Florentiner Zeit, wurde erst im März dieses Jahres von der Londoner National Gallery erworben – für umgerechnet 31 Millionen Euro. Zuvor hatte das Bild bereits zwölf Jahre lang im Haus am Trafalgar Square zugebracht, nachdem es erst 1991 als eigenhändige Arbeit wieder anerkannt worden war. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte das Gemälde als Werk des Meisters gegolten, ehe die Eigenhändigkeit zur Zeit des Erwerbs durch den Herzog von Northumberland 1854 in Zweifel geriet.
Dessen Nachfahr profitiert nun von den Wegen der Forschung, und wie immer, wenn viel Geld im Spiel ist, regte sich Missfallen, bis hin zu Nicholas Serota, dem überaus einflussreichen Direktor der Tate Gallery, der seinem Land ein zu starkes Interesse an der Vergangenheit und ein zu geringes an der Gegenwart und ihrer Kunst vorwarf. Die Kontroverse ist in England noch längst nicht abgeklungen; sie beißt sich derzeit erneut an der Frage der Autorschaft fest. Kostbarer Raffael oder spätere Kopie?
Wer allerdings neben der National Gallery – die im Wesentlichen auf Gelder der Staatslotterie zurückgreifen konnte – gleichfalls profitiert, sind Fachwelt und Öffentlichkeit. Denn das Museum zeigt anlässlich seiner spektakulären Erwerbung seit der vergangenen Woche eine Ausstellung zum Frühwerk des 1483 in Urbino geborenen Raffael, wie es sie seit 20 Jahren nicht gegeben hat und auf Jahre hinaus nicht wieder geben kann. 101 Arbeiten, darunter 38 Gemälde aus den Jahren 1500 bis 1512, dokumentieren Lebensweg und Laufbahn Raffaels von den Anfängen als Schüler seines Vaters Giovanni Santi bis zur Blüte seiner Karriere am Hofe Papst Julius’ II. in Rom.
Dorthin wurde Raffael 1508 berufen, und die Aufgaben, die ihm in Rom zufielen, übersteigen die Möglichkeiten einer Ausstellung: Es handelte sich insbesondere um die Ausmalung der Repräsentationsräume – der Stanzen – des im Urteil der Nachwelt stets als (allzu) weltlicher Machtmensch geltenden Renaissance- Papstes und gewichtigen Mäzens, dessen Tod 1513 wie der keines anderen Papstes die römische Kunstwelt erschütterte. Raffaels Bildnis Julius’ II. von 1511, ein Hauptwerk der derzeitigen Ausstellung, zählt übrigens zu den ersten Gemälden der Sammlung der National Gallery.
Bereits den Zeitgenossen galt der kometenartige Aufstieg Raffaels als märchenhaft. Sein früher Tod im Alter von nur 37 Jahren – noch dazu an seinem Geburtstag, dem 6. April, der 1520 auf Karfreitag fiel– beförderte die unmittelbar einsetzende Verklärung als göttlicher Maler. Als Zeitgenosse des eine Generation älteren Leonardo, vor allem aber des acht Jahre älteren Michelangelo, zu dem er am vatikanischen Hof in beständiger Konkurrenz stand, führte Raffael die Malerei der Hochrenaissance auf ihren Gipfel.
Es ist alles andere als einfach, unter solchen Rahmenbedingungen eine Raffael-Ausstellung zu konzipieren; nicht allein wegen der immensen organisatorischen Probleme, die sich bei Raffaels Malerei auf Holztafeln als nahezu unüberwindlich darstellen. Dass in London eine solche Vielzahl von Frühwerken versammelt werden konnte, bezeichnet eine Sternstunde des Museumsbetriebs. Doch nicht geringer sind die konzeptionellen Probleme. Raffael, der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kultische Verehrung genoss, ist heute nicht mehr ohne Voreingenommenheit zu sehen. Zugleich ist die Kenntnis von Stilgeschichte und Bildgehalten dermaßen geschrumpft, dass die Werke kaum mehr hinreichend verstanden werden. Dass die Ausstellung dessen ungeachtet zu einem Publikumsmagneten des Herbstes avancieren dürfte, wird durch die Publikation des Kataloges auch in deutscher Sprache unterstrichen.
Die National Gallery vertraut gleichwohl auf das konservative Konzept einer strikt chronologischen Kunstausstellung ohne jeden kulturhistorischen Verweis. Das kann man mit Blick auf die höchst anregende sozialhistorische Forschung jüngerer Zeit bedauern, die das Geflecht von Auftraggebern und Künstlern und die Stellung der Kunst im gesellschaftlichen Gefüge des Seicento zum Gegenstand hat. Der Gewinn der Londoner Ausstellung liegt demgegenüber im geradezu minutiösen Aufweis der Entwicklung Raffaels, deren Spannweite von der noch spätmittelalterlich geprägten Sprache seines Vaters bis zu der unvergleichlichen Meisterschaft etwa des Schlussbildes der Ausstellung, der seit Vasaris „Viten“ von 1568 als Porträt seiner Geliebten angesehenen „Dame mit dem Schleier“ von 1512/13, einfach nur Staunen macht.
Es gelingt der Ausstellung, diese Entwicklung nicht so sehr als Frucht einer genialen Begabung, sondern durchaus als Ergebnis unermüdlichen Studiums der künstlerischen Vorbilder kenntlich zu machen. Doch am Anfang – übrigens in bemerkenswerter Parallele zum jungen Dürer – steht die Zeichnung. Raffaels Selbstbildnis als Knabe von 1500/02 zeigt eine derartige Ökonomie der Strichführung, dass sein frühes Entstehungsdatum stets bezweifelt wurde.
Unter den Lehrmeistern ragt Perugino (1445-1523) heraus, zur Zeit von Raffaels Jugend der führende Maler Mittelitaliens. Sein berühmtes Fresko in der Sixtinischen Kapelle mit dem idealtypischen Zentralbau regte Raffael zu vergleichbaren Architekturdarstellungen an (das entsprechende Schlüsselbild, die „Vermählung Mariä“ von 1504, durfte die Mailänder Brera leider nicht verlassen). Der Entwicklung der Perspektive hin zur vollendeten Raumdarstellung galt der Ehrgeiz vieler Maler. Die auch hierin stupende Leistung Raffaels weist voraus auf seine spätere Tätigkeit als Architekt, die die Ausstellung wegen ihrer zeitlichen Eingrenzung auslassen muss.
Stattdessen kommt der Darstellung der menschlichen Figur die dominierende Rolle zu. Da sind zum einen die zahlreichen Madonnenbilder, unter denen sich der Millionenankauf der „Nelkenmadonna“ durch seine reduzierte, überraschend kühle Farbigkeit behauptet. Zum anderen zeigt die Ausstellung an Hand zahlreicher Zeichnungen, wie präzise, aber auch mit welch’ unermüdlichem Fleiß sich Raffael die anatomischen Kenntnisse vor allem Michelangelos angeeignet hat. Dessen Entwurf zum (nie ausgeführten) Fresko der dicht bevölkerten und reich bewegten „Anghiari-Schlacht“ von 1504 lieferte ein unerschöpfliches Formenrepertoire.
Wie selbstsicher Raffael derlei Vorbilder anzuwenden wusste, zeigt seine raffinierte, in London durch aufschlussreiche Vorstudien ergänzte „Bridgewater-Madonna“ von 1507, der das in sich gedrehte Jesuskind vom Schoß zu rutschen droht. Die gleichzeitige „Baglioni-Grablegung“ ist zwar nur durch eine exakte Kopie vertreten, aber gleichfalls mit Studienblättern hervorragend erläutert.
Es ist übrigens nicht zuletzt dieses monumentale Gemälde, das die Kritik der Raffael-Verächter herausgefordert hat; etwa jene von Roberto Longhi 1914, der darin „die ungereimte Zusammenstellung unterschiedlichster und einander widersprechender Elemente“ sah. Diese Kritik ist insofern erhellend, als sie auf genau das zielt, was stets als Raffaels Genie gepriesen wurde: die Verschmelzung unterschiedlicher Anregungen zu Synthese und Idealtypus der Renaissance-Malerei. Die Londoner Schau untermauert dieses Urteil, ergänzt es aber um die Einsicht in die enorme Willensleistung Raffaels, die Errungenschaften konkurrierender Meister aufzunehmen. Zum Genie wurde Raffael durch Fleiß und Arbeit.
Mehr als eine Fußnote aus Berliner Sicht ist der Einfluss, den der Kunsthistoriker und Direktor der Königlichen Galerie, Gustav Waagen, mit seiner 1838 veröffentlichten Beschreibung englischer Privatsammlungen auf sein Gastland ausübte. Denn der Ehrgeiz, den die 1824 gegründete National Gallery von Anbeginn auf den Erwerb von Raffael-Gemälden richtete, verdankt sich auch der Konkurrenz zur preußischen Hauptstadt. Beide Häuser konnten als Nachzügler gegenüber den reichen fürstlichen Sammlungen Europas nur mehr Frühwerke Raffaels erwerben. In London sind es mittlerweile neun, in Berlin immerhin fünf.
Von den Berliner Bildern ist nur eines auf die Reise gegangen. Hätte sich eine gemeinsame Berlin-Londoner Unternehmung angesichts des hiesigen Bestandes nicht verwirklichen lassen? Ausstellungen sind nicht allein Motor der Forschung, sondern auch Beweger der Öffentlichkeit, um finanzielle Kraftakte wie im Fall der „Nelkenmadonna“ zu legitimieren. Oder – wie in Berlin –, um auf Existenz und Rang des eigenen Museums aufmerksam zu machen.
Londons National Gallery am Trafalgar Square besitzt neun Frühwerke Raffaels (1483-1520), die das Rückgrat der gegenwärtigen Ausstellung bilden (bis 16. Januar 2005. Katalog 25 Pfund. Deutsch im Belser Verlag, Stuttgart, geb. 59,90 €). Raffels frühes Selbstportrait von 1502 aus den Uffizien in Florenz (ursprünglich Urbino; Ausschnitt oben) zählt zu den weiteren Glanzpunkten der Londoner Ausstellung. Die Berliner Gemäldegalerie am Kulturforum besitzt fünf frühe Werke Raffaels, von denen die „Maria mit dem segnenden Christuskind und den Hl. Hieronymus und Franziskus“ von 1501/02 nach London entliehen wurde. Herausragend in der Berliner Sammlung sind die „Madonna Terranuova“ (1505) sowie die „Madonna Colonna“ (1508).
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