Stuttgarter Staatsgalerie feiert Oskar Schlemmer: Der letzte Avantgardist
Oskar Schlemmers triumphale Wiederkehr: Die Staatsgalerie Stuttgart feiert den Bauhaus-Künstler mit einer Retrospektive. Sein Erbe ist endlich frei.
Der erste Blick gehört der „Bauhaustreppe“ von 1932, Oskar Schlemmers berühmtestem Bild. Philip Johnson erwarb es noch 1933 für das Museum of Modern Art, bevor die Ausstellung des Künstlers im Württembergischen Kunstverein durch die Nationalsozialisten geschlossen wurde und es sonst wo gelandet wäre. Endlich ist diese Inkunabel als Leihgabe wieder in Stuttgart zu sehen – als Erinnerung an eine finstere Zeit, die den im Bild gezeigten Aufbruch, den Aufstieg junger Menschen in einem Treppenhaus dem Lichte entgegen, zunichte machte. Und als Zeichen einer rechtzeitigen Rettung durch den Weitblick eines Architekten und Museumsmannes.
Es sollte Schlemmers erster Verkauf an ein ausländisches Museum sein, zugleich der letzte zu Lebzeiten des Künstlers, der 1943 gebrochen mit gerade einmal 54 Jahren verstarb. Als verfemt wurde der Hochschulprofessor sogleich aus dem Staatsdienst entlassen, seine Werke hingen 1937 in der Ausstellung „Entartete Kunst“. Der visionäre Zauber seines Hauptwerks aber hat überdauert: Wieder geht es hinauf, wieder einer neuen Zukunft entgegen, doch diesmal ist damit Schlemmers eigenes Oeuvre gemeint. Der bekannteste Unbekannte des Bauhauses erhält seit fast vier Jahrzehnten endlich wieder eine große Ausstellung. Der Kosmos Schlemmer kann neu verortet werden, nachdem zu Jahresbeginn die Rechte an seinem Werk frei gefallen sind, mit deren Hilfe Tochter und Enkel bisher sowohl Ausstellungstätigkeit als auch Forschungsarbeit torpedierten.
Oskar Schlemmer zeigt den Menschen als freies Wesen im Raum
Seit langem fiebert die Kunstwelt dem Tag entgegen, an dem die Stuttgarter Staatsgalerie den in ihrem Haus verwahrten Nachlass angstfrei zeigen, das Archiv mit den 3000 Briefen öffnen kann. Die 270 Gemälde, Zeichnungen, Kostüme, Plastiken umfassende Retrospektive „Visionen einer neuen Welt“ ist der grandiose Auftakt einer sehnsüchtig erwarteten Wiederbegegnung mit einem der letzten Avantgardisten, dem der an großen Namen orientierte Ausstellungsbetrieb bislang seine Aufwartung versagen musste. Seine Kollegen am Bauhaus, Kandinsky und Klee, kennt das Publikum als mal heitere, mal melancholische Poeten. Schlemmer aber hatte ein konkretes Weltbild im Kopf, das sich aus den Koordinaten der Kunst speiste: der Mensch als Konstrukt, als freies Wesen im Raum, das, reduziert auf Kegelkörper und Kugelkopf, das Desaster des Ersten Weltkriegs hinter sich lässt.
Das Rüstzeug für diesen Blick holte sich der junge Schlemmer als Student an der Stuttgarter Akademie, wo er Cézanne’sche Landschaften malen lernte. Von einem Aufenthalt in Berlin Anfang der 1910er Jahre, inspiriert durch Herwarth Walden und seinen Kreis, brachte er Bilder vom Jagdschloss Grunewald mit, dessen rote Dächer und weiße Wände sich bereits kubisch verfestigen. Zur Geometrisierung der Welt ist es von hier aus nicht mehr weit. Die Entschlackung des Menschen beginnt beim eigenen Konterfei.
Die beiden Selbstporträts mit ernstem, schmalem Gesicht und blonder Tolle von 1912 und 1913 scheinen so gar nichts mit dem markanten Glatzkopf gemein zu haben, als den man Schlemmer später von den berühmten Bauhaus-Fotografien kennt: mal lachend als musikalischer Clown geschminkt, mal mit Familie auf dem Dessauer Schulgelände. Und doch steckt in diesen frühen Selbstbildnissen bereits der Anfang des überindividuellen Typus, den Schlemmer immer wieder malen sollte: aufragend, schlank, frei in den Raum gesetzt, Nase und Stirn zum klassisch griechischen Profil verschmolzen. Die Ausstellung zeigt meisterhafte Bilder dieses Ideals an Harmonie und Ausgewogenheit: wie erstarrte Figurinen, die vor Fenstern stehen, auf Stühlen sitzen, aneinander vorbeiblicken und doch eine Atmosphäre der Zugewandtheit verströmen, ja teilweise sogar einen elegischen Romantizismus besitzen.
Schlemmer verkannte seine eigene Ambivalenz
Die Strenge der Figuren mag bis heute verstören. Dazu trägt Schlemmers eigene Haltung bei, der sich seltsamerweise von den Nationalsozialisten missverstanden fühlte und nach seinem Rauswurf in Petitionen erklärte, „den von Herrn Minister Goebbels verkündeten Forderungen an die Kunst von jeher schon entsprochen zu haben“. Die Idee vom neuen Menschen ließ sich in jegliche Richtung vereinnahmen. Schlemmer verkannte die eigene Ambivalenz, als er verzweifelt schließlich Goebbels schrieb: „Die Künstler sind im Grunde ihres Wesens unpolitisch und müssen es sein, weil ihr Reich von einer anderen Welt ist. Es ist immer die Menschheit, die sie meinen; das Totale, mit dem sie verbunden sein müssen.“
Der Einwurf blieb unerhört, Schlemmer geriet ins Abseits, die nun entstehenden Bilder überzieht eine depressive Finsternis. Ein letztes Hoch bedeuten die Farbexperimente, die er ab 1940 zusammen mit Willi Baumeister und Georg Muche für eine Lackfabrik in Wuppertal ausführen darf. Die erhaltenen Tafeln nehmen all jene abstrakten Übungen vorweg, die nach ’45 den radikalen Neubeginn der Kunst bedeuten sollten: Verfließungen, Drippings bis hin zu Rakel-Bildern, die bei Gerhard Richter erst Jahre später zur Großform geraten sollten.
Der Kühle des malerischen Werks, der Askese der großen Wandarbeiten, denen die Ausstellung die letzten Säle widmet, steht die heitere, ja versöhnliche Seite des Theatermenschen Schlemmer gegenüber, der nach dem Freifall der Rechte ebenfalls seine Renaissance erlebt. Die Wiederaufführung seines „Triadischen Balletts“ in München und Berlin wurde begeistert gefeiert. In Stuttgart sind in ganzer Pracht die rekonstruierten Kostüme zu sehen, Filme zeigen Inszenierungen seiner Bauhaus-Tänze, die zwischen Ernst und Komik changieren. Gemessenen Schrittes laufen darin die vermummten Protagonisten Bodenlinien ab, verbeugen sich achtungsvoll voreinander, suchen weiter nach dem goldenen Schnitt.
Sein überragendes Talent für die Bühne lässt sich auch an den großartigen Entwürfen für die Oper ablesen: für „Das Nusch-Nuschi“ von Franz Blei, Kokoschkas „Mörder, Hoffnung der Frauen“, Schönbergs „Glückliche Hand“. Schlemmer selbst fühlte sich zwischen beiden Polen hin- und hergerissen, gab zeitweise das Malen auf, sah sich dann wieder durch das Theater zu falschen Kompromissen verführt. Momente der Vollendung mag er verspürt haben, wenn er beim „Triadischen Ballett“ ins Kostüm des Türken schlüpfte mit bunten Stoffwülsten um den Leib und auf dem Kopf, ausgestattet mit einem Becken als Klanginstrument: eine Kunstfigur, zum Leben erweckt.
Staatsgalerie Stuttgart, bis 6. April; Katalog 29,90 €.
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