Oskar Schlemmers Tänzer kehren zurück: Marionetten sind wir
Epochales Meisterwerk der Avantgarde: „Das Triadische Ballett“ von Oskar Schlemmer wird in Berlin neu aufgeführt.
Bauhaus tanzen, das ist ganz schön vertrackt. Im Probenraum des Nationaltheaters München zwängt sich Anna Lena Uth mit Hilfe von zwei Garderobieren in den ausladenden Holzrock mit bunten Streifen. Er lässt die junge Ballerina wie einen Kreisel aussehen. Wenn sie sich auf Spitzenschuhen um die eigene Achse dreht, dann beginnt der Rockteller zu schwingen. Eine weniger geübte Tänzerin würde leicht die Balance verlieren, doch Anna Lena steht wie eine Eins. Ihr Partner, der „Taucher“, macht ein paar Hüpfer vor Begeisterung. Marta Navarrete Villalba in ihrem engen Kugelrock kann nur kleine Trippelschritte machen. Wenn sie sich mit einem Tapdance dem aufgeblasenen Zylindermann nähert, sieht sie wie ein kesser Revue-Käfer aus.
„Schaut euren Kollegen zu, wie sie leiden – und wie sie vorankommen“, ruft Ivan Liška den jungen Tänzern zu. Der Direktor des Bayerischen Staatsballetts und Colleen Scott, seine Frau, studieren „Das Triadische Ballett“ von Oskar Schlemmer ein, in der choreografischen Neufassung, die Gerhard Bohner im Auftrag der Akademie der Künste Berlin 1977 zu Musik von Hans-Joachim Hespos erarbeitet hat. Der „Große Rock“ aus Sperrholz, den Anna Lena trägt, ist ein Original aus den Siebzigern; Bohner hat ihn noch selbst mit bemalt.
Das „Triadische Ballett“ ist ein ikonisches Werk des 20. Jahrhunderts, heute klassische Avantgarde. In seinem Aufsatz „Mensch und Kunstfigur“ schrieb der bildende Künstler Schlemmer 1925: „Die Geschichte des Theaters ist die Geschichte des Gestaltwandels des Menschen: der Mensch als Darsteller körperlicher und seelischer Geschehnisse im Wechsel von Naivität und Reflexion, von Natürlichkeit und Künstlichkeit.“ Beim „Triadischen Ballett“ handelt es sich um die Farb- und Formfantasien eines Malers, Bildhauers und Amateurtänzers. Schlemmer hat sein Stück für Tänzer konzipiert. In der Urfassung 1922 traten die Balletttänzer Albert Burger und Elsa Hötzel auf sowie ein gewisser Walter Schoppe – hinter dem Pseudonym verbarg sich Schlemmer selbst, der später zugab, tänzerisch versagt zu haben.
Robert Wilson war begeistert
In Gerhard Bohners Version trat das „Triadische Ballett“ schließlich seinen Siegeszug um die Welt an. Auch Robert Wilson begeisterte sich für das Kostümballett, als er es 1985 in New York sah. Es waren vor allem die von Schlemmer sogenannten „Augenmenschen“, also Maler, Bildhauer und Architekten, die das Werk ansprach. Doch bei aller Bewunderung löste das singuläre Werk auch Verwunderung, ja, Irritation aus.
Für Ivan Liška und Colleen Scott ist das „Triadische Ballet“ eng mit ihrer eigenen Tänzerbiografie verknüpft. Zwölf Jahre lang, von 1977 bis 1989, traten sie mit dem Werk auf und übten sich in tänzerischer Mathematik. Mit der Neueinstudierung erfüllen sie sich einen lang gehegten Wunsch. Dass das „Triadische Ballett“ so lange nicht aufgeführt wurde, lag auch an dem streitlustigen Enkel Raman Schlemmer, der als großer Blockierer gilt. Seit Januar 2014, siebzig Jahre nach dem Tod von Oskar Schlemmer, sind die Urheberrechte erloschen – und das Werk des Bauhausmeisters kann neu entdeckt werden. Das Bauhaus Dessau widmete ihm eine ganze Ausgabe seiner Zeitschrift. Im November wird in der Staatsgalerie Stuttgart die Ausstellung „Oskar Schlemmer – Visionen einer neuen Welt“ eröffnet.
Die Neuproduktion des „Triadischen Balletts“ ist eine Kooperation des Bayerischen Staatsballetts und der Akademie der Künste Berlin. Ermöglicht wurde sie dank einer Förderung vom „Tanzfonds Erbe“, den die Kulturstiftung des Bundes aufgelegt hat. Das Interesse überrascht selbst die Veranstalter. Die fünf Vorstellungen in München Anfang Juni waren alle ausverkauft. In Berlin wurde wegen der großen Resonanz eine Zusatzvorstellung angesetzt.
Ivan Liška und Colleen Scott, das wird deutlich, sind der treibende Motor dieser Wiederbelebung. Bei den Proben springen sie immer wieder auf und machen den jungen Tänzern die Schritte vor. Bei diesem eigenartigen Ballett muss viel erklärt und korrigiert werden. Das Verblüffende ist: Die Ex-Tänzer haben die Bewegungen noch in ihrem Körper gespeichert. Er könne sich an alles erinnern, versichert Liška. Und wenn er etwa den „Türkischen Tänzer“ markiert, ist die von Schlemmer intendierte perfekte Synthese aus Mechanik und Grazie unmittelbar zu erkennen. Er zeigt den jungen Tänzern, wie man sich in eine Kunstfigur verwandelt, die abstrakte Raum- und Bewegungsprinzipien veranschaulicht.
„Wir haben keine Drogen genommen, aber uns drehte sich der Kopf. Schlemmer war nicht da, aber bei uns“, erinnert sich Liška an die Proben vom Sommer 1977. Und wie kam es, dass er sich überhaupt auf dieses Abenteuer einließ? „Wir haben es wegen Bohner gemacht. Er wurde zu unserem Freund.“ Noch während der Probenzeit haben die beiden Tänzer geheiratet, Bohner war ihr Trauzeuge. Am nächsten Tag wurde dann weiterexperimentiert. „Wir haben ihm Bewegungen vorgeschlagen, er hat uns ungerührt zugeschaut und gesagt: Vielleicht ein Zehntel davon.“ Die Kostüme beschränken die Bewegungsfreiheit des Tänzers. Der muss seine Virtuosität erst mal abstreifen.
Originale Aufzeichnungen gibt es kaum
Von Schlemmers Choreografie sind kaum verwertbare Aufzeichnungen erhalten. Originalgetreu lässt sie sich also nicht rekonstruieren. Gerhard Bohners Strategie kann heute, da viel darüber diskutiert wird, wie sich Werke der Tanzgeschichte wiederbeleben lassen, als wegweisend gelten. Er studierte mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit die Entstehungs- und Werkgeschichte; er folgte den Formideen Schlemmers, als Choreograf lotete er aber auch den Spielraum der Tänzer in den Kostümen aus. Er propfte dem Werk nichts auf, auch ihm ging es um Reduktion, um Vereinfachung und Verdeutlichung. Nele Hertling und Dirk Scheper haben seinerzeit an der Akademie der Künste Bohners Arbeit mit großem Einsatz unterstützt.
Tanzhistorisch betrachtet war das „Triadische Ballett“ die Antithese zum expressiven Ausdruckstanz, wie ihn Mary Wigman verkörperte. Denn hier ging es nicht darum, sein Selbst zu entäußern. Schlemmer war von Heinrich von Kleist beeinflusst, der in seiner berühmten Erzählung die künstliche Anmut der Marionette zum Ideal erhob. Für Ivan Liška müssen die Tänzer sich in eine Kunstfigur verwandeln, sie sind aber keine Roboter: „Bohner hat diesen Figuren rudimentäre Geschichten zugrunde gelegt – und wir müssen sie in drei, vier Minuten präzise, glaubhaft und sogar musikalisch darbieten.“
Heute besinnen sich junge Choreografen wieder auf die Tanzgeschichte und sind oft erstaunt, wie radikal die alten Meister waren. Der 1992 gestorbene Gerhard Bohner darf als Vorreiter gelten, denn er wollte durch die Auseinandersetzung mit der Tanzhistorie seine eigene Position bestimmen. Sein Freund Ivan Liška trägt die Fackel weiter: „Wenn ich nicht weiß, wo ich herkomme, wie soll ich dann wissen, wohin ich gehen soll?“
Akademie der Künste, Hanseatenweg: 27. und 28.6., 20 Uhr, 29.6. 11 und 20 Uhr
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