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Radwechsel. Der Abbau des Räuberrades auf dem Rosa-Luxemburg-Platz Ende Juni.
© imago/PEMAX

Volksbühne in Berlin: „Der Kulturkampf hat sich verselbständigt“

Ein Interview mit dem Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen über die Petition zur Volksbühne nach Frank Castorf und die Fraktionen im Berliner Theaterstreit.

Der letzte Castorf-Vorhang an der Volksbühne ist gefallen, aber Ruhe kehrt vor Chris Dercons Start dennoch nicht ein. Die Theaterwissenschaftlerin Evelyn Annuß hat auf der Plattform change.org eine Petition gestartet, die fordert: „Zukunft der Volksbühne neu verhandeln“. Der kulturpolitische Auftrag, ein Ensemble- und Repertoire-Theater zu erhalten, sei klar verfehlt. Bis jetzt sind über 20 000 Unterschriften zusammengekommen, darunter die von Navid Kermani, Christoph Menke und Boris Groys. Zu den Erstunterzeichnern zählt auch der Kulturtheoretiker Diedrich Diederichsen, der sich zuletzt im März in einem Beitrag in „Texte zur Kunst“ mit dem Intendanzwechsel auseinandergesetzt hat.

Herr Diederichsen, was hat Sie bewogen, die Petition zur Neuverhandlung der Volksbühnen-Zukunft zu unterstützten?

Einen Anstoß haben sicher die extrem intensiven, großartigen Abende in den vergangenen Wochen und Monaten an der Volksbühne gegeben. Der andere Grund war das von Chris Dercon veröffentlichte Programm, das mich völlig ratlos lässt.

Inwiefern?
Ich bin anfangs auch deswegen nicht so entschieden als Verteidiger der Castorf-Volksbühne aufgetreten, weil ich den Ton sehr unangenehm fand, in dem gegen den Kurator, gegen den Belgier, polemisiert wurde. Das waren auch Ressentiments, nicht nur Argumente. Aber das Programm, das jetzt vorgestellt wurde, ist einfach hohl. Lauter Namen und Ideen, die schon lange überall vorkommen, von Tino Sehgal bis zu Boris Charmatz.

Was hatten Sie denn erwartet?
Ich hatte keine konkrete Erwartung, aber ich dachte doch, dass mehr kommt als ein paar Rosinen aus der Festivalkultur. Das Programm hätte ja entlang einer bestimmten Schiene von Installation, Bildender Kunst und Theater durchaus eine Bereicherung sein können. Debatten über das Verhältnis zwischen Bildender Kunst und Theater gab es bereits vor 15, 20 Jahren, die könnte man doch offensiv in die Gegenwart führen. Aber das wird weder durch Namen noch durch Grundsatztexte beglaubigt. Das Manifest fehlt.

Dercon argumentiert, die feindliche Stimmung habe seine Planungen torpediert.
Diese rotzige Feindlichkeit hatte ja sehr unterschiedliche Facetten, teilweise lustige, teilweise oberflächliche. Ich kann mir vorstellen, dass Dercon unter Druck stand. Aber es geht hier ja nicht darum, dass eine neue Intendanz noch nicht jedes Detail ausgearbeitet hätte, etwa, welches Diskursprogramm im Roten Salon stattfinden soll. Wenn man ein Haus übernimmt, braucht es ein zentrales Motiv, etwas, das man in die Welt setzen will.

Dr Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, 59, gehört zu den Erstunterzeichnern der Volksbühnen-Petition "Zukunft neu verhandeln".
Dr Poptheoretiker Diedrich Diederichsen, 59, gehört zu den Erstunterzeichnern der Volksbühnen-Petition "Zukunft neu verhandeln".
© dpa/p-a/

Sie haben die Auseinandersetzung um den Intendanzwechsel als Kulturkampf beschrieben. Sehen Sie da Gewinner und Verlierer?
Der hat sich ja verselbstständigt. Symptomatisch war, welche Fraktionen in diesem Kulturkampf aufeinander trafen: deutschsprachige, sozialistisch-provinzialistische Gentrifizierungsgegner gegen die global und postkolonial orientierten Queerfeministen, denen vorgeworfen wird, das Geschäft des Neoliberalismus zu betreiben. In dieser Auseinandersetzung steckt noch viel drin, sie wird auch nicht offen genug geführt. Vor allem nicht vom Mainstream, der nur den sloganförmigen Schaum abschöpft.

Frank Castorf ist doch, siehe „Faust“, sehr offen für Kolonialismuskritik.
Das stimmt, aber diese Position ist doch stark codiert über den alten Anti-Imperialismus des Ostens. Und nicht über die postkoloniale Positionen von afrikanischen oder indischen Theoretikerinnen und Theoretikern, die über amerikanische Universitäten in den globalen Diskurs gelangt sind. Andererseits hat die Volksbühne unter Castorf mit Marthalers „Murx den Europäer“ begonnen, wenn das keine anti-kolonialistische Position ist, dann weiß ich auch nicht (lacht).

Muss man alles von Brecht und Müller herleiten?

Mit Dercon, hieß es, solle Internationalität an die Volksbühne kommen. Nur scheint durcheinander geraten zu sein, was damit überhaupt gemeint ist.
Es gibt sicher eine problematische Internationalität, die auf die Abendgestaltung von englischsprachigen Managern und Touristen ausgerichtet ist. Theater für Gentrifizierungsgewinner. Andererseits gibt es in Berlin aber auch seit langem eine nichtdeutschsprachige und nicht ganz so männliche Kunstwelt, die internationale Themen diskutiert und nicht immer alles von Brecht und Heiner Müller herleitet. Weshalb die als Faktor nicht vorkommen soll, ist nicht einzusehen. Bloß werden diejenigen, von denen wir hier sprechen eher vom HAU bedient, wo man mehr argentinisches oder koreanisches Englisch hört als an der Volksbühne.

Welche Versäumnisse sehen Sie auf Seiten der Kulturpolitik?
Sie hat bis heute nicht vernünftig erklären können, weshalb es das Beste für die Volksbühne sein soll, wenn sie entkernt wird. Möglicherweise haben ja auch die Verantwortlichen gedacht, es käme noch irgendwas Manifestartiges. Vielleicht ist es einfach Blödheit gewesen. Oder, dritte Möglichkeit, es steckte böse Absicht dahinter. Das Gerücht kursierte ja schon lange: Die Kulturpolitik möchte nach der Ära Castorf ein Theater für durchreisende Großproduktionen schaffen, ein weiteres Haus der Berliner Festspiele. Das hieß früher ja auch mal Volksbühne.

Was hätten Sie sich denn von einer Castorf-Volksbühne in den kommenden Jahren erhofft?
Es hätte für mich gar nicht unbedingt Castorf als Intendant sein müssen. Man muss die Intendanz ja nicht als Metatext begreifen, von dem aus sich alles andere am Haus interpretieren lässt. Die politische Position der Volksbühne in diesem Kulturkampf wäre ja eine andere, wenn man sie von René Pollesch, Herbert Fritsch oder Christoph Marthaler her lesen würde. Wobei ich hier festhalten möchte: Das sind einfach die Spitzenleute im deutschsprachigen Theater. Und die gehen jetzt alle weg von der Volksbühne. Das ist, als würde man sagen: Wir brauchen keine Berlinale mehr, stattdessen machen wir ein paar neue Kinos in Reinickendorf und Neukölln auf, wo dann auch iranische Exilregisseure kommen.

Und was denken Sie über Frank Castorfs Politik der verbrannten Erde? Unter anderem werden ja die meisten Bühnenbilder geschreddert.
Castorf ist eben eine Drama-Queen. Wäre er das nicht, hätte er auch seinen Beruf verfehlt. Was die Bühnenbilder betrifft, wäre ich allerdings unbedingt für den Erhalt, die sind schließlich von kunstöffentlichem Interesse.

Was soll Ihrer Meinung nach nun weiter passieren?
Vielleicht wird ja tatsächlich noch mal neu verhandelt, und es gibt eine Kompromisslösung. Chris Dercon könnte sich mit einem nicht ganz so schroffen Teil der Volksbühne darauf einigen, dass sie im eigentlichen Haus ihre Inszenierungen weitermachen können, eine Art eigene Republik haben, Ost-Pakistan und West-Pakistan (lacht), und er übernimmt Tempelhof. Oder Dercon zaubert doch noch eine Position aus dem Hut, die mit Gegenwartstheater zu tun hat. Oder, auch so eine Spekulation, nach einem Jahr bricht alles zusammen und Matthias Lilienthal wird geholt. Oder Barbara Mundel.

Diedrich Diederichsen, 59, ist Deutschlands wichtigster Poptheoretiker. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt seine Adorno-Vorlesungen Körpertreffer. Das Gespräch mit ihm führte Patrick Wildermann.

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