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Motörhead-Fan Virginie Despentes.
© imago/Leemage

Virginie Despentes und ihr Roman "Vernon Subutex": Der Himmel über Paris

Ausweitung der Pop- und Politzone: Die französische Schriftstellerin Virginie Despentes hat einen rasanten Gesellschaftsroman geschrieben, „Das Leben des Vernon Subutex“.

Zum Beispiel Patrice. Türsteherfigur, bis zum Hals tätowiert, lange Haare, dicke Ringe an den Fingern, Metallarmbänder ums Handgelenk. In einem früheren Leben war Patrice marxistischer Hells Angel und Musiker bei der Rockband Nazi Whores. Heute geht es ihm weniger gut, nachdem er seine Frau immer wieder geschlagen und missbraucht hat, bis sie ihn mitsamt den beiden Söhnen verließ. Am liebsten hockt er zu Hause auf dem Sofa.

Oder Aisha, 19 Jahre jung. Ihr Vater Sélim ist Universitätsprofessor, ihre Mutter Faiza Pornostar, unter dem Namen Vodka Satana. Als Aisha das entdeckt, konvertiert sie zum Islam. Oder Xavier, erfolgloser Drehbuchautor und Script-Doctor, verheiratet, ein Kind, glattrasierter Schädel, hundert Kilo schwer, nicht einverstanden mit der französischen Einwanderungspolitik. Allein der Anblick seiner arabischen Mitbürgerinnen nervt ihn: „Kann man überhaupt noch zweihundert Meter die Straße langgehen, ohne dass man ihre Schleier, die Hand der Fatima an jedem Rückspiegel und die Aggressivität ihrer Bälger ertragen muss? Widerliche Rasse, kein Wunder, dass sie niemand ausstehen kann.“

In diesem Pariser Figurenensemble findet sich natürlich auch Vernon Subutex, der dem rasanten Gesellschaftsroman der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes seinen schlichten, etwas in die Irre führenden Titel gegeben hat, „Das Leben des Vernon Subutex“. Mit ihm beginnt der Roman. Vernon wird vom Gerichtsvollzieher wegen Mietrückständen aus seiner Wohnung geworfen. Er ist Ende vierzig, war einst Besitzer eines Plattenladens, bis 2006, als die Musikindustrie in die Krise geriet und die Digitalisierung begann. Danach hat er sich irgendwie durchgeschlagen, mal mit der Arbeitslosenunterstützung, mal mit Zuwendungen seines Freundes Alex Bleach, der als Popstar erfolgreich und reich wurde, jetzt aber tot ist.

Mit "Baise-moi - Fick mich" wurde Despentes berühmt-berüchtigt

Vernon sucht nun Unterschlupf, bei früheren Freundinnen und Freunden, er beginnt, durch Paris zu ziehen. Ein Paris, das Virginie Despentes schnell mit vielen anderen Gestalten bevölkert, die nicht weniger bedeutsam sind als Vernon, mit Menschen wie Patrice, Xavier und Aisha, mit Ex-Pornostars, brasilianischen Transvestiten, Journalistinnen, Filmproduzenten und einigen mehr.

Vernon Subutex. Ein seltsamer, sprechender, vielsagender Name, nicht zuletzt weil Drogen eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Subutex ist der Handelsname einer Entzugsdroge, eines in seiner Wirkung eher schwachen, trotzdem suchterzeugenden Opioids; für eine Romanfigur ein Name, auf den vermutlich nur jemand wie Virginie Despentes kommen kann.

Hierzulande kennt man Despentes vor allem als Autorin eines in den mittleren neunziger Jahren in Frankreich veröffentlichten Romans mit dem Titel „Baise- moi“, auf Deutsch: „Fick mich“. In Deutschland erschien er 2000 unter dem unverfänglicheren, poetischeren Titel „Wölfe fangen“, nachdem Despentes ihn selbst verfilmt und damit eine Pornografiedebatte ausgelöst hatte (der Film wurde in Frankreich für normale Kinos verboten, konnte nur in Porno-Kinos gezeigt werden). „Baise-moi“ erzählt von zwei Frauen, Manu und Nadine, die erst männer-, später wahllos mordend durch Frankreich ziehen und vor keiner Grausamkeit zurückschrecken. „Während der Kerl es ihr besorgte, hat sie an die Szene vom Nachmittag gedacht, wie Nadine die Frau an der Wand zermatscht hat, wie sie dann von der Knarre zerfetzt wurde. Bestialisch, wirklich. So gut wie ein Fick.“

Ihrem subkulturellen Zugang ist Despentes treu geblieben

War das reiner Splatter? Einfach nur schockierend? Oder doch literarisch? Und vor allem: radikalfeministisch? So ganz einig wurde man sich seinerzeit nicht. Frankreich jedenfalls hatte neben Michel Houellebecq nun auch Despentes. Anders als Houellebecq fand diese in Deutschland jedoch mit ihren Romanen, die auf „Wölfe fangen“ folgten und in den Gefilden von Punk, Drogenkliniken und anderer Subkulturen angesiedelt sind, mit „Teen Spirit“, „Bye, bye Blondie“ oder „Apokalypse Baby“, kaum ein größeres Echo.

„Das Leben des Vernon Subutex“ erstreckt sich noch über zwei weitere Romane, die in Frankreich allesamt zu Bestsellern geworden sind. Der erste Teil wirkt in seiner Machart wie die Quersumme des bisherigen Werkes von Virginie Despentes. Die 1969 in Nancy geborene Schriftstellerin ist sich insbesondere mit ihrem subkulturellen Zugang weitgehend treu geblieben. Selbst manche Figur kommt einem bekannt vor. Eine gewisse Hyäne, die in „Apokalypse, Baby“ als Privatdetektivin eine verschwundene Teenagerin sucht, ist nun auf die sozialen Netzwerke umgestiegen und denunziert hier gegen Geld den Ruf von bekannten Persönlichkeiten: „Weil Paris ein Dorf ist, hat sich das Serviceangebot der Hyäne schnell rumgesprochen“.

Warum der Roman in Frankreich schon mit Balzacs "Comédie humaine" verglichen wird

Motörhead-Fan Virginie Despentes.
Motörhead-Fan Virginie Despentes.
© imago/Leemage

Despentes kennt sich aus im Pop und im Rock, wie ihr Held war sie in einem früheren Leben Betreiberin eines Plattenladens, sie kennt sich aus in der Pornoindustrie, war sie doch auch in dieser tätig, paradoxerweise nachdem sie als 17-Jährige beim Trampen mit einer Freundin von mehreren Jungs vergewaltigt worden war.

Und wenn sie darüber schreibt, wie es in einem Club zugeht, mit all den sozialen Interaktionen, wie es ist, wenn man sich das Koks ins Zahnfleisch reibt und was es sonst noch mit einem machen kann, was für eine Rolle die sozialen Medien im Leben junger und nicht mehr ganz so junger Menschen spielen, wirkt auch das nicht so, als hätte Despentes all das aufwendig recherchieren müssen.

Bei aller Szenekenntnis kümmert sich Despentes diesmal auch um die (klein-) bürgerlichen Schichten. Um die Wut derer, die einen sozialen Abstieg hinter sich haben, um die Angst von denen, die noch auf der Sonnenseite stehen, um vielerlei Deformationen und Aberrationen, vom mitunter pathologischen Körperkult in Frankreich über den politischen Rechtsdrall bis hin zu den Problemen mit dem islamischen Fundamentalismus. „Die Französische Republik hatte ihm vorgegaukelt, wenn er sich ihre universelle Kultur zu eigen machte, würde sie ihn wie all ihre Kinder mit offenen Armen übernehmen“, denkt Aisha einmal über ihren aus dem Mahgreb stammenden Vater und dessen eigentlich ganz ansprechende Karriere nach. „Schöne heuchlerische Versprechen. Aber auch mit Hochschuldiplom sind die Araber die Kanaken der Republik geblieben und man hat sie verschämt vor der Tür der großen Institutionen stehen lassen.“

Es grüßen Nick Hornby und Michel Hoeullebecq

„Das Leben des Vernon Subutex“ ist ein großformatiges Sittengemälde, ein urbanes, pariserisches, ein politisches dazu. Weshalb man den Roman in Frankreich schon mit Balzacs „Comédie humaine“ verglichen hat, was vielleicht ein bisschen zu hoch greift. Es reicht vielleicht, wenn man ihn irgendwo zwischen Houellebecq, Frédéric Beigbeider und Nick Hornby verortet.

Überdies ist die Sprache von Despentes smarter, geschmeidiger geworden, was man selbst in der deutschen Übersetzung von Claudia Steinitz spürt. Diese Sprache hat eine glitzernde Nüchternheit bekommen, sie will nicht mehr wie in früheren Romanen der Autorin unbedingt rotzig, schnoddrig rüberkommen, soll nicht mehr mit aller Macht der Straße und ihren Szenen abgelauscht sein. Ein paar Sätze genügen Despentes, um das Bewusstsein der Figuren zum Vorschein kommen zu lassen, und auf eine bestimmte Seite schlägt sie sich dabei nie. Die Hyäne zum Beispiel ist ihr mit ihren Gemeinheiten, in die sich trotzdem ein soziales Verantwortungsgefühl mischt, genauso lieb wie der defätistisch wirkende Vernon mit seinem Macho-Gehabe.

Der nächste Band des Romans in drei Folgen erscheint auf Deutsch 2018

Vernon besitzt zwar noch ein paar Video- und Gesprächsbänder seines verstorbenen Popstar-Freundes Alex Bleach – was etliche Figuren des Romans verbindet, da viele von ihnen in den Besitz dieser Bänder gelangen wollen. Trotzdem landet Vernon irgendwann auf der Straße, lernt Paris von ganz unten kennen, zunehmend am Rande des Todes balancierend. Einfach verrecken kann er jedoch nicht, es folgen ja noch zwei Romanteile, der nächste erscheint auf Deutsch im Frühjahr 2018. Insofern imaginiert Vernon sich vorerst nur in den Himmel über Paris, als Jedermann und Jederfrau: als einsamer Mann genauso wie als rührender Vater, als junge Geigenvirtuosin genauso wie als „arrogante, überempfindliche Nutte“ oder als ein „mit seinem Rollstuhl solidarischer Junge“.

Und am Ende als der, der er wirklich gerade ist, „ein Penner auf einer Bank hoch oben auf einem Hügel, in Paris“. Mit den Augen von Virginie Despentes blickt er auf diese Stadt und die französische Gesellschaft – und nimmt noch einen Schluck aus der Weintüte.

Virginie DespentesDas Leben des Vernon Subutex. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 399 S., 22 €.

Gerrit Bartels

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