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Schriftsteller in Pose. Frédéric Beigbeder.
© AFP / Martin Bureau

Interview: Frédéric Beigbeder: Meine Kindheit, eine Lüge

Über die Schwierigkeit, sich selbst zur Romanfigur zu machen. Vor der Lesung in Berlin: Ein Gespräch mit dem französischen Schriftsteller Frédéric Beigbeder.

Monsieur Beigbeder, im Januar 2008 hat die Pariser Polizei Sie mal wegen Kokainkonsums für 48 Stunden in Gewahrsam genommen. Müssen Sie sich in Ihrem Buch deshalb gleich mit illustren Gefangenen wie François Villon, Voltaire und de Sade vergleichen?

Es war ein Moment der Offenbarung. Sich in einem winzigen Raum ohne Uhr, Bücher oder sonstige Ablenkungsmöglichkeiten wiederzufinden, lässt den Wunsch nach Flucht entstehen. Die Erinnerung ist dafür eine sehr gute Möglichkeit. Aber schon vorher wollte ich ergründen, wie ich zwischen null und fünfzehn Jahren, also von 1965 bis 1980, gelebt habe. Ich hatte kaum Erinnerungen daran. Das begann mich zu beunruhigen.

Warum bezeichnen Sie Frankreich als „vergessliche Nation“?

In Deutschland spricht man viel über die jüngere Vergangenheit, in Frankreich dagegen vermeidet man das Thema. In den Familien wird kaum darüber gesprochen, was im Zweiten Weltkrieg geschah. Ich musste meine Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten regelrecht ausfragen. Ja, gerade die Tatsache, dass ich mich kaum an meine Vergangenheit erinnern kann, beweist wohl, dass ich Franzose bin.

Stammt daher der Titel Ihres Buchs?

Ursprünglich sollte es „Une jeunesse française“ (Eine französische Jugend), heißen, aber da gibt es schon die Mitterrand-Biografie von Pierre Péan. Ich habe entdeckt, dass mir meine Eltern nicht die ganze Wahrheit gesagt haben: Meine Kindheit war ein Roman, als ob ich in einer gut gemeinten Lüge aufgewachsen wäre.

Ist das Ihre Suche nach der verlorenen Zeit, wie sie Marcel Proust betrieben hat?

Oh, dass Sie dieses immense Meisterwerk zitieren, macht Sie mir sehr sympathisch! Ich schätze aber auch Bücher wie Sartres „Die Wörter“. Eines Tages muss jeder Schriftsteller einmal über seine Kindheit schreiben, das ist beinahe eine Pflicht, um zu erfahren, wer man wirklich ist. Kürzlich hat Günter Grass das getan, als er in „Die Box“ Fotos aus seinem Leben Revue passieren ließ, oder auch Nathalie Sarraute.

Wollten Sie auch ein Zeugnis für Ihre kleine Tochter Chloë ablegen?

Ein Kind zu haben bedeutet, zu seiner eigenen Kindheit zurückzukehren. Ich bin 45, und wenn ich mich an Details aus den frühen Siebzigern erinnere, erscheinen sie wie in eine zarte, verschwommene Aura gehüllt. Das Schreiben kann, wenn es gelingt, Schattenzonen aufklären.

Wie schwierig ist es, sich selbst zur Romanfigur zu machen?

In den 20 Jahren, seit ich Bücher veröffentliche, habe ich immer Romanfiguren gewählt, die mit mir verwechselt wurden, obwohl sie viel spektakulärer waren als ich. Deshalb hatte ich etwas Angst, von dem echten Frédéric zu sprechen, einem leicht banalen Jungen ohne Geschichte. Aber ich wollte mich mit einer gewissen Ehrlichkeit darstellen. Jenseits der Vierzig hört man schließlich damit auf, jemand anderer sein zu wollen.

Was antworten Sie Kritikern, die Ihnen Egozentrik vorwerfen?

Dass sie völlig recht damit haben! Alle Schriftsteller sind total egomanisch und narzisstisch, da mache ich gar keine Ausnahme. Vor allem nicht, wenn ich ,ich’ sage: Ich heiße Frédéric und wurde 1965 in Neuilly-sur-Seine geboren. Ich glaube aber, dass ich meine Egozentrik durch Humor und Selbstironie verzeihlich erscheinen lasse. Ich mache mich ja auch ständig über mich lustig.

Sie schreiben viel über die Geschichte Ihrer hochgestellten Familie, angefangen mit dem Urgroßvater Thibaud de Chasteigner, der 1915 im Krieg den Heldentod starb. Haben in Frankreich die sozialen Klassen tatsächlich noch eine so große Bedeutung?

In den sechziger Jahren unbedingt. Mein Großvater war ein extrem konservativer Graf, es gab Riten beim Essen, beim Umgang mit Dienstboten und lange Listen von Dingen, die man nicht tun und von Menschen, mit denen man nicht reden durfte. Diese hierarchischen Strukturen galten bis zum Mai 1968, wo alles explodierte. Das Frankreich, das ich als kleiner Junge kannte, ähnelt dem Deutschland, das man in Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ sieht. Ich kann kaum glauben, dass ich das selbst erlebt habe, es erscheint mir völlig anachronistisch.

Und jetzt ist es ganz anders?

Sagen wir so: Innerhalb einer Generation habe ich das großbürgerliche Frankreich verschwinden sehen. Ersetzt wurde es durch globalisierte Businessmen. Sie haben überhaupt nichts Aristokratisches mehr, oder vom ehrbaren Bürgertum der Provinz, wie ich es kannte: Das war sehr katholisch und monarchistisch und verteidigte Ideen, die es heute nicht mehr gibt.

Sie haben zehn Jahre lang, bis 2000, als Werbetexter gearbeitet. Ist Ihnen diese Welt, von der Ihr Bestseller „39,90“ handelt, völlig entrückt?

Gelegentlich wird mir bewusst, dass mir diese Zeit viel gebracht hat und nicht nur eine Phase der Frustration und des Leidens war. Ich habe gelernt, Sätze zu schreiben, die sich einprägen und an meinem Humor, meiner Ironie zu arbeiten. Diese Erfahrung nützt mir vor allem dann, wenn ich auf Lesereise über mich selbst Gutes sagen soll!

Das Gespräch führte Katrin Hillgruber.

Frédéric Beigbeder,

geboren 1965 in Neuilly-sur-Seine, arbeitete nach seinem Studium der Politikwissenschaft über zehn Jahre lang als Werbetexter, bevor er sich dem – weithin autobiografisch grundierten – Schreiben von Prosawerken zuwandte. Bereits 1994 rief er den Prix de Flore für junge Autoren ins Leben, zu dessen Preisträgern

Michel Houellebecq und Virginie Despentes zählen. Sein größter literarischer Erfolg, der 2001 erschienene, konsumkritische Roman 39.90, wurde 2007 von Jan Kounen verfilmt.

Aus seinem neuen Buch Ein französischer Roman (Piper Verlag, 253 Seiten, 19,95 Euro), liest Beigbeder am heutigen Montag. 20.30 Uhr, in Lehmanns Fachbuchhandlung, Hardenbergstr. 5, in Berlin. Die Moderation des Abends hat Ruthard Stäblein vom Hessischen Rundfunk übernommen.

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