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Patrick Modiano, Jahrgang 1945.
© Franck Courtes/VU/laif

Literaturnobelpreis für Patrick Modiano: Der Ernst des Schwebens

Sehnsucht und Recherche: Warum der französische Autor Patrick Modiano den wichtigsten Literaturpreis verdient und warum sich die Schwedische Akademie mit dieser Entscheidung explizit an die Literatur wendet.

Das ist eine richtige Überraschung, und eine schöne dazu. Der französische Schriftsteller Patrick Modiano bekommt den diesjährigen Literaturnobelpreis – und nicht der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o, die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch oder der Japaner Haruki Murakami, die von den Wettbüros zu Favoriten gekürt wurden. Der Name Patrick Modiano fiel da in den vergangenen Wochen nie, auch nur sehr selten in den vergangenen Jahren. Was nicht zuletzt daran liegt, dass die Vergabe des Literaturnobelpreises zunehmend politischen Interpretationen und Einschätzungen unterliegt, das Preiskomitee sich aber genau diesen gern mal verweigert, siehe auch die Wahl Alice Munros 2013.

Den Preis Modiano zu verleihen ist eine explizit der Literatur zugewandte Entscheidung, sie lässt sich aktuell politisch nicht ausdeuten. Zum Glück. Nicht immer sollte die Literatur instrumentalisiert werden, sie hat ihre eigene Wahrheit, ihr eigenes Wesen. Die diesjährige Vergabe zielt auf eine ihrer Hauptsubstanzen, geht sie doch an einen Meister der Erinnerungsliteratur, an einen Erinnerungsfetischisten. In der Begründung heißt es, Modiano erhalte den Preis für seine „Kunst der Erinnerung, mit der er die unbegreiflichsten Schicksale wachgerufen habe“. Und wirklich erzählt dieser französische Autor nicht, wie man das inzwischen von Autoren wie dem Norweger Karl-Ove Knausgaard oder deutschen Schriftstellern wie dem vergangenes Jahr verstorbenen Peter Kurzeck kennt, offensichtlich, ausgreifend und plan sein eigenes Leben nach; sondern er wendet sich in schmalen, kunstvollen, stets der Fiktion zu ihrem Recht verhelfenden Büchern bestimmten Lebensabschnitten seiner Protagonisten zu.

Patrick Modiano hat viele seiner Bücher seinem toten Bruder gewidmet

Nur selten lässt sich dabei irgendetwas eins zu eins auf Modianos Leben zurückführen – und doch scheinen die meisten seiner Figuren Wieder- und Doppelgänger von ihm selbst zu sein, schöpft auch Modiano aus den Tiefen seiner Herkunft, aus den Irrungen und Wirrungen seiner frühen Jahre bis zu dem Punkt, da aus ihm ein Schriftsteller wurde. Nur in dem einer Autobiografie ähnlichen Buch „Ein Stammbaum“ hat er einigermaßen offen Auskunft gegeben, einem Buch, das er, wie viele andere, seinem zwei Jahre jüngeren, im Alter von zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall verunglückten Bruder gewidmet hat: „Abgesehen von meinem Bruder Rudy, seinem Tod, betrifft mich, glaube ich, nichts wirklich von allem, was ich hier erzähle.“ Die Trauer um die verlorene Zeit, um die Vergangenheit, die nie wieder zurückkehrt, um die Menschen, die man aus den Augen verloren hat, die tot sind – all das macht sein inzwischen rund 30 Titel umfassendes Werk einerseits aus. Andererseits versucht jeder von Modianos Romanen aufs Neue, diese Vergangenheit festzuhalten, den Zauber des Verlorenen zu bannen.

Geboren wurde Modiano 1945 in Boulogne-Billancourt, einer größeren Ortschaft südwestlich von Paris, als Sohn eines jüdischen Geschäftsmannes und einer flämischen Schauspielerin. Der Vater hielt sich zur Zeit der deutschen Besatzung illegal und unentdeckt von den Nazihäschern in Paris auf, wechselte immer wieder die Wohnungen, lebte vom Schwarzhandel, war in dubiose Geschäfte verwickelt, kannte aber selbst seine Herkunft nicht. Modianos Eltern trennten sich nach dem Krieg früh, Modiano verlebte eine unruhige Kindheit und Jugend, seine Schulzeit verbrachte er ausschließlich in Internaten. Als 1968 sein erster Roman „La Place de l’Étoile“ veröffentlicht wurde, bezeichnete er das als seine „zweite Geburt“.

In "La Place de l'Étoile" spielt Modiano mit antisemitischen Klischees

„La Place de l'Étoile“ ist ein Buch über die jüdische Herkunft seines Vaters, darin wird mit allen möglichen jüdischen wie auch antisemitischen Klischees gespielt. Der Held ist ein heimatloser Jude, der mit einem der berühmtesten Antisemiten Frankreichs, dem Schriftsteller Céline, abzurechnen versucht, in dem er ihm all dessen eigenen jüdischen Züge nachweist, bis hin zum Prousthaften seines Satzbaus. Der Roman wird dann immer verschlungener, es wechseln Zeiten und Orte und die Identitäten der Figuren, und im richtigen Leben hat sich Modiano dann auch nicht viel intensiver dem jüdischen Glauben verschrieben.

Eine seiner literarischen Obsessionen wurde dennoch die deutsche Besatzungszeit, sie kehrt immer wieder in den Erinnerungen seiner Protagonisten; und in dem 1997 erschienenen Roman „Dora Bruder“ hat er einem 1941 verschwundenen und in Auschwitz ums Leben gekommenen jüdischen Mädchen ein Denkmal gesetzt, in dem er das Wenige, was er noch herausfinden konnte, mit seiner Fantasie angereichert hat: Was denkt sie, wie lebt sie im Paris der Okkupationszeit, wenn sie jederzeit damit rechnen muss, deportiert zu werden?

Im Grunde schreibt Modiano stets dasselbe Buch: Ein Erzähler erinnert sich.

Es sind mehrere Motive, die eigentlich in jedem Modiano-Roman wiederkehren, die er von Mal zu Mal variiert, im Grunde schreibt er stets dasselbe Buch. Neben der Besatzungszeit sind es die sechziger Jahre, die es ihm und seinen Figuren angetan haben. Zumeist versucht sich ein Erzähler zu erinnern, an die verschwundene Jugend, in der ihm doch die Welt gehörte, an die Irrwege, die Sehnsüchte dieser Zeit, an ein Mädchen, das er damals kannte. So wie der Held aus Modianos letztem Roman „Der Horizont“, der sich noch einmal eine alte Liebe von vor 40 Jahren vergegenwärtigt. Da war es vielleicht „Sommer im Frühling, wenn es im April schon sehr heiß ist. Oder einfach Nachsommer, im Herbst – all diese Jahreszeiten, die miteinander verschmelzen und einem das Gefühl geben, die Zeit sei stehengeblieben.“

Man kann Modiano-Romane mit dem Pariser Stadtplan in der Hand lesen

Und natürlich und immer wieder: an Paris, an die Straßen bestimmter Viertel. Man kann Modiano-Romane mit dem Straßenplan von Paris in der Hand lesen, immer wieder tauchen Plätze, Straßen, Cafés auf, so als ließe sich durch eine gesicherte Topografie zumindest ein fester Pflock in die unzuverlässigen, oft verwirrenden Erinnerungen schlagen. Und oft haben sich ja auch die Orte verändert, ist auch hier nicht mehr alles, wie es einst war. Was aber dem Leser nichts ausmachen muss: Paris bildet sich hier so schön und sehnsüchtig ab wie bei kaum einem zweiten Autor.

In seinem 2007 veröffentlichten Roman „Das Café der verlorenen Jugend“ sind es gleich drei Ich-Erzähler, die sich auf die Spur einer geheimnisvollen jungen Frau namens Jaqueline Delanque machen, genannt Louki. Einer davon ist Privatdetektiv, er wird von ihrem ersten Ehemann beauftragt, nach ihr zu forschen und gerät dabei zunehmend in seltsame Daseinszustände: „Ich spürte ihre Gegenwart auf diesem Boulevard, dessen Lichter wie Signale leuchteten, ohne dass ich sie hätte entschlüsseln können und ohne zu wissen, aus welch fernen Jahren sie drangen.“ Es geht nicht gut aus für Louki, sie stürzt sich aus dem Fenster eines billigen Hotels; aber vielleicht hat sie auch ihr höchstes Glück erreicht, nämlich „in der Luft zu schweben und endlich jenes Gefühl der Schwerelosigkeit zu verspüren, nach dem ich schon immer gesucht habe.“

Tatsächlich strahlt auch Modianos, hierzulande zumeist von Elisabeth Edl wunderbar ins Deutsche übertragene Prosa, etwas Schwereloses, Schwebendes aus – das macht bei wiederkehrender Thematik den Reiz seiner Bücher aus, gar ihr Suchtpotential. Die Sätze wirken beiläufig, leise und unaufgeregt – und doch ist das alles sehr präzise gebaut, versteht es der Autor, Zeiten, Räume und Figuren fast unmerklich ineinander übergehen zu lassen. In Frankreich ist Patrick Modiano schon lange einer der größten, 1978 gewann er schon den Prix Goncourt mit dem Roman „Die Gasse der dunklen Läden“. Der Literaturnobelpreis wird ihm nun auch in anderen Ländern größere Aufmerksamkeit verschaffen; auch in Deutschland, wo er nur einigen wenigen, ihn dafür aber innigst verehrenden Lesern bekannt ist. Verdient hat er es.

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