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Schwindelerregend. Vom Schnürboden, der höchsten Ebene des Bühnenturms, geht der Blick 22 Meter tief hinunter auf die Bühne.
© Thilo Rückeis

Berliner Türme (7) - diesmal in Berlin-Charlottenburg: Der Bühnenturm des Theaters des Westens

Wie ein Burgfried ragt der Bühnenturm des Theaters des Westens in den Himmel über Charlottenburg. Eine Kraxelei hinter den Kulissen.

Puh, die Leute da unten sehen ganz schön klein aus. Wir stehen in 22 Metern Höhe auf einem Gitterrost und schauen hinab auf die Bühne des Theaters des Westens. Ein bisschen Metall, nach bestem Ingenieurswissen querverstrebt, das ist alles, was den Besucher hier oben vor dem freien Fall bewahrt. Über unseren Köpfen Seile und Flaschenzüge, im Luftraum unzählige Scheinwerfer, aufgehängt an frei schwebenden Vier-Punkt-Traversen, und unten auf den Brettern die „Gefährten“, jene aus Lederriemen gefertigten Pferdepuppen, die noch bis Ende September allabendlich über die Bühne galoppieren.

Schnürboden nennen die Fachleute diese oberste Ebene eines Bühnenturms. „Höhenangst-Teststrecke“ wäre wohl die passendere Bezeichnung. Während der Gast gegen den Fluchtreflex ankämpft, bewegt sich Bühnenmeister Roland Lahn ganz lässig auf diesem Nichts aus Stahl. Na gut, er arbeitet ja auch schon seit 1985 am Theater des Westens. Zu zweit haben wir uns in den winzigen Fahrstuhl gequetscht, der im Jahr vor Lahns Einstellung in der hinteren linken Ecke der Bühne eingebaut worden ist, sind langsam hinaufgezuckelt, vorbei an der ersten, dann der zweiten Galerie, bis unter den Dachstuhl des 1896 eröffneten Gebäudes.

Erinnerungen an die englische Renaissance werden wach

Als mittelalterlichen Bergfried hat der Architekt Bernhard Sehring den Bühnenturm des Theaters des Westens gestaltet, in bewusstem, scharfem Kontrast zum neobarocken Zuschauerhaus. Herrschaftlich trumpft die Schauseite an der Kantstraße auf, mit Türmchen und Obelisken, mit Statuen, Putten, ionischen Säulen und schlanken Rundbogenfenstern. Hinter diesen Fassaden ist der Kunde König, hier wird in den Foyers flaniert und im rotplüschigen Saal repräsentiert. Die Arbeitsräume der Künstler dagegen erinnern mit ihren Backsteinmauern und dem Zierfachwerk eher an glorreiche Theaterzeiten der englischen Renaissance. Der Backstage-Bereich beschwört Shakespeares Globe Theatre. Mit dem einen Unterschied, dass die moderne Schauspielkunst nach mehr verlangt als nach einer aus Brettern gezimmerten Spielbude. Weil die Leute spektakuläre Verwandlungen sehen wollen, prächtige Prospekte, die lautlos in die Höhe schweben, während sich das nächste Bühnenbild ebenso lautlos aus dem Himmel herabsenkt, erdachte Sehring den trutzigen quadratischen Bühnenturm, krönte ihn mit Zinnen und mit Ausgucken, auf deren spitzen Dächlein blitzende Bleikugeln sitzen, schmückte die Nebengebäude mit gotischen Spitzbogenfenstern und Treppengiebeln nach traditionellem holländischem Gusto.

Spektakulär sollte der Bau sein, ein Hingucker im boomenden Charlottenburg, der angesagtesten Stadt unter den damals noch autonomen Gemeinwesen, die rings um die Reichsmetropole heranwuchsen. Allein die Bühne ist 20 Meter breit und 24,5 Meter tief von der Rampe bis zur Rückwand. In einem seiner Berliner Briefe für die „Breslauer Zeitung“ aus dem Oktober 1896 schwärmt Alfred Kerr: „Der flüchtige äußere Eindruck ist sofort gewinnend und imposant. Das neue Bühnenhaus von Sehring ist von höchster Eleganz, von einer nicht immer manierfreien Beschaffenheit und einer gewissen Neigung zu Kinkerlitzchen, aber doch so vornehm, stolz und lebensheiter, wie es in deutschen Landen wahrscheinlich kein Privatgebäude geben wird."

Hinter den Kulissen ist immer Nacht

Kaum ein Architekt des Kaiserreiches ist fantasiereicher als Bernhard Sehring, der virtuose Stilmixer und Meister des Eklektizismus. Auf die Idee, die Künstler- respektive Zuschauerbereiche in jeweils unterschiedlicher Optik zu bauen, war bislang keiner gekommen. Traditionell bestimmt das Eingangsportal den Stil des Hauses, die Bühnentürme ihrerseits wachsen dann ganz organisch aus dem Gebäudeensemble heraus, sollen trotz ihrer Höhe das Erscheinungsbild nicht dominieren.

An seinem Arbeitsplatz freilich erinnert Bühnenmeister Roland Jahn nichts an die extravagante Außenhülle des Theaters des Westens. Hinter den Kulissen herrscht immer Nachtstimmung, die Wände sind so schwarz wie die Berufskleidung der Bühnenarbeiter. Nicht auffallen!, lautet das Credo. Damit die Illusion aus Zuschauersicht perfekt bleibt, damit sich der Zauber des Schauspiels entfalten kann. Viel Handarbeit haben sie hier früher geleistet, bis zu acht Mann waren nötig für jeden Szenenwechsel. Jeder Mitarbeiter wartete an seinem Handzug, bis der Inspizient von seinem Pult neben dem Portal ein Lichtzeichen gab: Dann hieß es, die mit Gegengewichten gesicherten Seile in exakt derselben Geschwindigkeit zu bewegen wie die Kollegen, damit die daran aufgehängten Bühnenbilder nicht ins Ruckeln gerieten.

Der Turmchef. Bühnenmeister Roland Lahn schaut von der ersten Galerie im Bühnenturm.
Der Turmchef. Bühnenmeister Roland Lahn schaut von der ersten Galerie im Bühnenturm.
© Thilo Rückeis

Heutzutage werden die allermeisten Züge elektrisch gesteuert, ebenso wie die gesamte Lichttechnik. Einmal nur müssen die Scheinwerfer von Hand eingerichtet werden, während der Show läuft dann fast alles automatisch. Viel Geld hat der Musicalkonzern Stage Entertainment in die Technik investiert, seit er das Haus 2003 übernehmen konnte. Ein stolzes Haus, in dem Hans Pfitzner vor 110 Jahren Musikdramen dirigiert hat, das später mit Ausstattungsrevuen die Massen anlockte, nach 1945 zur Ausweichspielstätte der Deutschen Oper wurde. Hier gab Maria Callas ihr einziges Berlin-Gastspiel, hier wurde 1961 mit „My Fair Lady“ deutsche Musicalgeschichte geschrieben. Unter der Intendanz von Helmut Baumann erlebt das Haus bis 1999 dann eine letzte Glanzzeit als subventionierte Bühne.

Auf der ersten Galerie, in zehneinhalb Metern Höhe, kann man die alten Handzüge noch sehen, Dutzende davon gibt es an beiden Seiten. Wie ein Relikt aus vergangenen Tagen wirkt auch der gemalte Vollmond, der mitten zwischen den Scheinwerfern hängt. Er spielt allerdings mit in den „Gefährten“. Weil die Entrauchungsklappen bei gutem Wetter tagsüber zum Durchlüften geöffnet werden, können wir von der sehr schmalen zweiten Galerie einen Blick nach draußen werfen, hinüber zum Glas-Metall-Gürteltier der Börse. Wie ein Kunstwerk wirkt von hier oben der Wald aus Drahtseilen, an denen die Vier-Punkt-Traversen hängen: ein verwunschener Lianenhain im Dämmerlicht.

Frederik Hanssen

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