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Kultur: Pfeffer des Fortschritts

Als Charlottenburg Avantgarde war: Vor 90 Jahren eröffnete Trude Hesterberg im Theater des Westens ihre „Wilde Bühne“

Alfred Kerr war sein größter Fan. „Ich sehe ihn bereits als Ehrenbürger von Charlottenburg enden“, schwärmt er 1895 in einem seiner „Berliner Briefe“ für die „Breslauer Zeitung“. Bernhard Sehring ist gemeint, ein junger Architekt aus Dessau, der gerade sein erstes Großprojekt im Westen der Reichshauptstadt verwirklicht: das Theater des Westens, „ein Riesenunternehmen auf einem Riesenterrain mit mehr als dem üblichen Komfort der Neuzeit“.

Teilnahmsvoll beobachtet Alfred Kerr das Werden des Baus, seine Einweihung – und die künstlerischen Pleiten an der Kantstraße. Noch vor Ablauf der ersten Saison haben zwei Direktoren Bankrott gemacht, der Baumeister selber sitzt auf einem Berg Schulden. Die blendende Karriere, die Kerr diesem „angenehmen struggleforlifer“ dennoch prophezeit, wird Sehring nicht erleben – 1941 stirbt er verbittert und verarmt. Durch sein Theater des Westens aber hat er dem Neubauviertel rund um den Savignyplatz den entscheidenden urbanen Kick gegeben.

Mit typischer Berliner Geschwindigkeit wird Charlottenburg zum Zentrum der Moderne. In den literarischen Cafés am Kurfürstendamm steigen Weltentwürfe aus dem Zigarettendunst auf, in den Filmpalästen staunen die Massen, und in den Kabaretts wird die neue Zeit sogleich satirisch seziert. Sollen sich die Parvenüs und Provinzler ruhig bei den opulenten Ausstattungsrevuen an der Friedrichstraße amüsieren – im Westen wird auf winzigen Bühnen ganz große Kleinkunst geboten. Bei Rosa Valetti im „Cabaret Größenwahn“, in Rudolf Nelsons Theater am Kurfürstendamm 217, im Kabarett der Komiker oder auch bei den Zeitgeist-Singspielen von Friedrich Hollaender wird frech getextet und noch frecher vorgetragen. „Weniger Charme, mehr Geist. Blitzender Geist, Blitzlichtgeist“, schreibt Christian Bouchholtz in seinem 1928 erschienenen Buch über den Kurfürstendamm.

Eine, die das Berliner Metropolenlebensgefühl besonders gut trifft, ist Trude Hesterberg. Ihre Karriere hat sie als Operettensängerin begonnen, das Bühnenhandwerk bei der Leichten Muse von der Pike auf gelernt. Um sich dann weiterzuentwickeln. Die Kritiker schwärmen von ihrem „expressionistischen Soubrettentum“. 1921 entschließt sie sich, ein eigenes Etablissement aufzumachen, ein literarisch-politisches Kabarett. Den geeigneten Ort für ihr Avantgardeprojekt findet sie ausgerechnet in Bernhard Sehrings Zuckerbäcker-Bühnenbau. Weil sich so ein Privattheater ja rechnen muss, hat der Architekt den großen Saal in der Belle Etage platziert und im Erdgeschoss Platz geschaffen für Restaurationsbetriebe: Links vom Haupteingang befindet sich der Zugang zur „Künstlerkneipe“, deren Innenausstattung Alfred Kerr begeistert: „Hier sind die Wände von Marmor und von Mosaiken aus Murano gebildet. In einem romanischen Raum befindet sich an der Wand ein Stammbaum von Porträts aller mit dem Theater des Westens eng zusammenhängender Künstler.“ Auf alten Postkarten heißt dieses Kuriositätenkabinett Parsifalzimmer. „Exquisite Küche, zwei Kapellen, die ganze Nacht geöffnet“ lockt ein Schild, auch ein „Saal für Hochzeiten“ wird angepriesen.

Als die Geschäfte mit Bier und Wein wegen der unablässig wachsenden Konkurrenz im Kiez nicht mehr so rund laufen, bekommt Trude Hesterberg den Zuschlag, darf die Mauer zwischen zwei Gastzimmern durchbrechen lassen, so dass ein lang gestreckter Zuschauerraum entsteht. Im Herbst 1921 startet sie hier ihre „Wilde Bühne“, den Prolog zum Eröffnungsprogramm hat Tucholsky beigesteuert. Dann folgen deftige Bänkelgesänge und Balladen. „Asphalt“ ist eine Chansonfolge überschrieben, die Trude Hesterberg nach der Pause vorträgt, bevor der Abend mit dem Dramolett „Das Viech“ endet, einer „Schaustellung ohne einheitliche Handlung“. Curt Bois und Blandine Ebinger werden in den kommenden beiden Spielzeiten hier auftreten, Ringelnatz, Klabund und auch Bertolt Brecht liefern Texte, die meisten Lieder komponiert Werner Richard Heymann, der später mit seiner Musik zu den „Drei von der Tankstelle“ berühmt wird, am Klavier sitzt der blutjunge Peter Kreuder. Dann aber, am 16. November 1923, hat der Spaß schon wieder ein Ende. Durch eine schadhafte Sicherung entsteht ein Kabelbrand in der „Wilden Bühne“. Hesterberg gibt auf, verdingt sich wieder als Soubrette. Der Komiker Wilhelm Bendow wird ihr Nachmieter, führt die gerade erst begonnene Kabarett-Tradition mit seinem „Tütü“ fort. Von 1930 bis zur Zwangsschließung durch die Nazis betreibt schließlich Friedrich Hollaender hier sein „Tingeltangel“.

Wenn zum 90. Gründungsjubiläum der „Wilden Bühne“ nun am kommenden Dienstag eine Gedenktafel an der Kantstraße enthüllt wird, dann ist das Timo Butzmann zu verdanken. Hauptberuflich ist er seit 1992 Klima- und Haustechniker im Theater des Westens, das seit 2003 vom Unterhaltungskonzern Stage Entertainment betrieben wird. In seiner Freizeit beschäftigt ihn die Historie des Hauses. Dann streift er über die Trödelmärkte, fahndet nach alten Programmheften und Postkarten.

Besichtigt man mit ihm Trude Hesterbergs einstige Wirkungsstätte, braucht man allerdings viel Fantasie. Denn dort, wo einst das Parsifalzimmer war, befinden sich heute die Umkleideräume des Orchesters. Mattes Licht fällt durch Spitzbogenfenster auf Metallspinde, die gotische Rosette an der Stirnseite wurde gevierteilt, um die Toiletten zu belüften. Eine Tür weiter, wo die Kabarett-Gäste an Sechsertischen saßen, lümmeln jetzt die Theatertechniker auf Ikea-Sofas. Der Fernseher läuft, ein Pappschild auf dem Kühlschrank verkündet: „Bier 1 Euro“. An der selbst zusammengezimmerten Bar hängt das Schild „Apachen-Pub“, ein Relikt aus dem abgespielten Musical „Der Schuh des Manitu“. Zwischendecken sind eingezogen worden, als in den achtziger Jahren das Haus in der Ära Helmut Baumann auch personell seine Blütezeit erlebte. Dort, wo die Gemeinschaftsduschen sind, standen in den zwanziger Jahren die Kleinkünstler neben dem Pianisten.

Wir nehmen den Hinterausgang: Seit das „Delphi“ 1927 auf dem Gelände des Theater-Lustgartens errichtet wurde, ist der Blick verstellt auf die mittelalterliche Burg, die Architekt Bernhard Sehring seinem barocken Vorderhaus angefügt hat. Oben zwei Etagen mit Fachwerk, dann zwei Etagen Backstein, ebenerdig aufwendig gearbeitete Schmuckfenster, mit gedrehten Säulen und neogotischen Zierelementen, weiter vorne auch mit stilisierten Ritterhelmen. Gulaschstil nannten die Berliner in den zwanziger Jahren den wüsten historistischen Mix, in dem hier gebaut wurde. Der Pfeffer dazu kam von scharfsinnigen Zeitgenossen wie Trude Hesterberg.

Am 25. Oktober um 11 Uhr wird Kulturstaatssekretär André Schmitz die Gedenktafel am Theater des Westens enthüllen.

Frederik Hanssen

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