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So geht es nicht. Der streitbare Thilo Sarrazin sagt gern seine Meinung.
© Sebastian Kahnert/dpa

Sarrazin und die Meinungsfreiheit: Das Sach-Bloß-Buch

Thilo Sarrazin schreibt zurück. In seinem jüngsten Werk attackiert er den „Neuen Tugendterror“. Dessen prominentestes Opfer heißt: Thilo Sarrazin.

Vermutlich sei es so, mutmaßte Helmut Schümann, eigenen Angaben zufolge kein Prophet und als Redakteur des Tagesspiegels vertraglich nicht verpflichtet, „in die Zukunft zu schauen“, dass nach Erscheinen des neuen Sarrazin Verzückungsschreie durchs Land schallen werden. Weil endlich einer „die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“ auslotet und die Vertreter des „Neuen Tugendterrors“ in die Schranken weist. Gleichfalls erwartbar der Aufschrei von Tugendboldinnen und -bolden, die pseudowissenschaftlichen, pseudoseriösen gefährlichen Schwachsinn vermuten würden. Aber Bürger Sarrazin fühlt sich im Namen des gemeinten bürgerlichen Volkes allenfalls der Raison d’être aller Stammtische verpflichtet, das werde man doch als Deutscher wohl noch sagen dürfen.

Offenbar hat noch keiner gemerkt, dass organisierte Tugendterroristen brutalstmöglich alle Meinungen unterdrücken, die nicht den ihren entsprechen. Mit angelesenem Zweitgeist stemmt sich Sarrazin diesem Zeitgeist entgegen. Wer sonst? Meinungsfreiheit in Deutschland, grundgesetzlich garantiert, ließe sich einfach auch so definieren: Die einen sagen so, die anderen sagen so. Aber diese Wahrheit allein trägt keine einzige Sarrazineske. Ähnlich absurd wie die Erklärung einer moralischen Ex-Anstalt, sie habe Geld in die Schweiz geschafft aus Angst vor Hetzern in der Heimat, liest sich die seine: Freie Meinung werde unterdrückt von einem Kartell böswilliger Gutmenschen.

Meist geht die Skandalisierung von einigen Leitmedien aus

Furchtlos rennt Sarrazin offene Türen ein, die zu durchbrechen er sich hoch anrechnet. Für die Vermarktung eine geniale Strategie. Sollten Käufer des Machwerks nach Lektüre merken, dass sie kein Sachbuch, sondern ein Sach-Bloß-Buch erworben haben, ist es für Reue zu spät. Sarrazins Bücher sind nämlich grundsätzlich vom Umtausch gegen richtige Bücher ausgeschlossen.

Dass er sich rührend um Sprache bemüht, ja geradezu mit ihr ringt, stets jedoch verliert, soll man ihm nicht vorwerfen, denn auch andere, gleich ihm Sprachlose werden gedruckt. Sie volkstümeln auf Bestsellerlisten und werden neben Könnern wie Clark, Münkler, Illies gelistet, als gehörten sie in deren Klasse. Gott der Herr ernährt bekanntlich alle Lebewesen, die weder säen noch ernten, aber auch jene, die nicht schreiben können. Auf den Einfall, mit des Kaisers neuen Kleidern einen Kleiderschrank zu füllen, muss man allerdings erst einmal kommen. Die Idee ist Sarrazins Unique Selling Proposition, sein Alleinstellungsmerkmal.

Den Journalisten, die ihn nach seinem ersten Bestseller zu kritisieren wagten, weil sie in gärend Drachengift die Milch seiner frommen Denkart verwandelten, gibt er Saures: „Dass in deutschen Medien, auch in Printmedien, selten genau gelesen wird, war mir schon vor Jahrzehnten aufgefallen.“ Denn die „sinnstiftende Medienklasse hat als meinungsbildendes Kollektiv Macht und übt sie auch gerne aus ... Meist geht die Skandalisierung von einigen Leitmedien aus. Die große Meute der Journalisten trabt abschreibend und emotionalisierend hinterher.“

In Gefahr und Not tut ein tapferer Retter wie er Not: „Die Reaktion des breiten Publikums auf ,Deutschland schafft sich ab‘, hatte gezeigt, dass die Deutungsmacht der Medien und des von ihnen verordneten Mainstream-Denkens durch den Einzelnen durchbrochen werden kann.“ Dieser Einzelne ist wer? Richtig. Und weil Sarrazin zusätzlich angibt, „in meinen pessimistischen Momenten halte ich das tragende Gerüst unserer zivilen Gesellschaft für recht schwach und den Firnis der Zivilisation für ziemlich rissig“, fühlt er sich berufen, seine Finger in jene Risse zu legen.

Die Behauptung, hierzulande würden unbequeme Meinungen unterdrückt, mit einer Startauflage von zigtausend in den Buchhandel und per Vorabdruck in der „Bild-Zeitung“ auf die Marktplätze zu schleudern, nennt man gemeinhin Chuzpe. Den Klageliedern Sarrazins zufolge müsste das Ding logischerweise klandestin vertrieben werden. Aber wer ihn mit Logik in Verbindung zu bringen versucht, ist gemein. Also Journalist.

Der Verdichter S. zitiert querbeet durch alle Epochen, was immer ihm auf der Reise durch längst Bekanntes auffiel und wer irgendwie zu seinen Thesen passen könnte: Koestler, Sartre, Machiavelli, Pontius Pilatus, Freud, Danton u. a. nach dem Seiten füllenden Prinzip: „Bereits Jesus sagte in der Offenbarung zu Johannes ...“, warum also nicht auch er: „Dieses Buch ist durch Deutschland der Gegenwart geprägt. Aus dessen Beobachtung und meinen konkreten Erfahrungen nahm ich den Antrieb, es zu schreiben.“

Sarrazin fühlt sich ungerecht behandelt und sinnt auf Rache

Also war es offenbar so, dass ein von Trieben aus dem Bett vertriebener Pensionär die sich zwangsläufig ergebende nächtliche Freizeit ausnutzte, um zu grübeln, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dabei stellte er fest, dass alles, was er zu entdecken glaubte, bereits schon lange vor ihm ergründet, begründet und beschrieben worden ist. Die Idee, die ihn daraufhin nachts vor geöffnetem Kühlschrank ereilte, war in ihrer Simplizität dennoch genial: Er bediente sich der Dichter und Denker und Philosophen und Wissenschaftler, indem er sie in langen Passagen zitierte, Hunderte von Zeilen schindend und gleichermaßen die eigene Belesenheit dokumentierend. Die Zitate sind zudem sowohl gedanklich als auch sprachlich Oasen zwischen Sarrazins eigenartigen Sekundärgedanken, allein die Liste der Fußnoten füllt 43 Seiten.

Woher rührt der Antrieb, der ihn unter Aufschreibzwang setzte? Genetisch bedingt? Geltungsdrang? Kein Hobby? Eher war es wohl so, dass er sich von Intellektuellen, denen er sich verwandt glaubt, nach seinem Frühwerk ungerecht behandelt fühlte. Seitdem sinnt er auf Rache, was natürlich Schlafstörungen verursacht.

Wäre man einer jener üblen Schreiberlinge, die darauf lauern, Sarrazins neuen „Tugendterror“ zu attackieren, was ließe sich über den Mann schreiben, der tapfer alle Angriffe eines Lektors auf seinen Text abgewehrt hat? Nichts über den Inhalt. Das wäre gemein. Es könnte Leser vom Kauf abhalten und das wiederum würde dem Umsatz deutscher Buchhändler schaden, die es schwer genug haben in diesen Zeiten. Ein Zitat sei allen kostenfrei geschenkt: „Nach dem Scheitern der unterschiedlichen Gesellschaftsutopien blieb die Gleichheitsidee als ihr kollektives Waisenkind in der Welt. Sie prägte die katholische Soziallehre, den Feminismus, die Bewegung der Schwulen und Lesben, die Theologie-, Philosophie-, und Soziologie-Lehrstühle und sowieso alle heimatlos gewordenen Sozialisten, Marxisten und ihre geistigen Erben. Und natürlich war und ist sie an zentraler Stelle in den Köpfen unserer mehrheitlich linken, grün und sozial eingestellten Medienvertreter.“

Es könnte doch wirklich so sein, dass diese grünlinkssoziale Meute darauf wartet, den Inhalt seines sogenannten Buches, das morgen erscheint, böswillig zu hinterfragen. Gemach: Es steht nichts drin, was der Rede wert wäre. Geschweige denn einer üblen Nachrede.

Thilo Sarrazin: „Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“, DVA, 22,99 Euro.

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