Interview mit Bundesinnenminister de Maizière: "Diskussion über Sarrazin hat Integrationsdebatte ehrlicher gemacht"
Bundesinnenminister Thomas de Maizière warnt vor Asylmissbrauch und lobt die Sarrazin-Debatte, die ein Katalysator gewesen sei. Er stellt eine Neureglung beim Doppelpass vor. Und er hat einen olympischen Traum.
- Antje Sirleschtov
- Christian Tretbar
Herr de Maizière, erinnern Sie Ihre erste Olympiabegegnung?
Ich erinnere mich an Helmut Recknagel, einen Skispringer, der bei den Olympischen Winterspielen 1960 in den USA Gold gewann – als erster Deutscher im Skispringen und als erster Nicht-Skandinavier überhaupt. Damals stürzten sich die Skispringer noch mit den Armen nach vorne die Berge herunter. Das hat mich sehr beeindruckt. Genau wie die Tatsache, dass es damals zwei deutsche Staaten aber eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft gab. Und Recknagel war Thüringer und ein Sportidol in der DDR.
Gesamtdeutsche Mannschaften gab es nach den Sommer- und Winterspielen 1964 dann nicht mehr.
Das stimmt. Und ich erinnere mich noch sehr genau an die erste Regierungserklärung meines Cousins Lothar de Maizière im April 1990. Damals konnte man sich nicht auf einen Zeitplan für die deutsche Einheit einigen. Manche sprachen von zehn Jahren Übergangszeit, andere von sofortigem Beitritt. Und Lothar de Maizière sagte: „Wir hoffen, dass wir bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona wieder eine gesamtdeutsche Mannschaften haben.“ Naja, der Rest ist Geschichte, es dauerte dann nur noch ein paar Monate.
Vor den Spielen in Sotschi wurde vor allem über die Sicherheit gesprochen. Spielt der Sport keine Rolle?
Ich hoffe sehr, dass sich das jetzt mit den ersten Wettkämpfen ändert. Ich selbst werde mir kommendes Wochenende ein Bild machen. Gerade die Diskussion über die Sicherheit in Sotschi zeigt, dass wir angesichts der politischen Debatte um die NSA nicht in die Lage kommen dürfen, dass die Arbeit von Nachrichtendiensten generell in ein schiefes Licht gerückt wird. Die jüngsten Warnungen vor Anschlägen auf den Luftverkehr nach Sotschi kämen nicht ohne nachrichtendienstliche Erkenntnisse zustande. Es ist aber natürlich eine Frage des Maßes der Datenerhebung. Und darüber sind wir mit den Amerikanern im Gespräch. Aber eine sinnvolle Zusammenarbeit der Dienste ist wichtig.
Sie stehen einer raschen deutschen Olympiabewerbung kritisch gegenüber. Warum?
Wir haben in kurzer Zeit zwei Bewerbungen verloren. Wir sollten jetzt nicht mit den gleichen Methoden einen nächsten Versuch starten. Dass aber ein Land unserer Größenordnung, mit unserer demokratischen Tradition und auch unserem Organisationstalent und der Fähigkeit, ein guter Gastgeber zu sein, es nicht schafft, eine Bewerbung mit Zustimmung der Bevölkerung hinzubekommen, kann nicht sein.
Was heißt das?
Wir müssen die Fehler analysieren und dann einen großen Wurf wagen und auf Sommerspiele setzen. Dabei muss man aber die Bevölkerung von Beginn an mitnehmen und das heißt, erst planen, reden und dann bewerben, nicht umgekehrt. Dafür braucht man Zeit.
Wann können Sie sich denn vorstellen, dass sich Deutschland wieder bewirbt?
Ich denke ein angemessener Zeitpunkt für eine neue Bewerbung wäre Ende des nächsten Jahrzehnts.
Und Berlin wäre ein guter Austragungsort für Olympische Sommerspiele?
Das will ich jetzt nicht bewerten. Ich weiß, es gibt Interesse. Auch von Hamburg. Eines ist aber klar: So eine neue Bewerbung kann nur in einer nationalen Kraftanstrengung erfolgreich sein. Bei der Fußball-WM haben wir gezeigt, dass wir fröhliche Patrioten sein können. Dem könnten wir noch eine neue Botschaft hinzufügen, die mit Vielfalt, Integration und auch Inklusion zu tun hat. Ich träume persönlich davon, dass Olympische Spiele und Paralympics gleichzeitig stattfinden. Morgens 10 bis 11 Uhr 1500 Meter Finale der Sportler ohne Behinderung, anschließend der Sportler mit Behinderung.
Sie liefern das Stichwort: Integration. Was hat sich seit ihrer letzten Amtszeit als Innenminister getan?
Es ist eine Menge passiert. Wir haben zum Beispiel die Bluecard eingeführt, was ein großer Erfolg der schwarz-gelben Regierung war, der zu wenig gewürdigt wurde, obwohl er das Zuwanderungsrecht verbessert und die Zuwanderung qualifizierter Fachleute enorm erleichtert hat. Die Zustimmung in der Bevölkerung zu Zuwanderung hat zugenommen. Und dann ist ja auch noch das Buch von Thilo Sarrazin erschienen.
Was hat das Buch bewirkt?
Ich habe Sarrazins Buch nicht wegen des Buchs erwähnt. Es ist nun mal erschienen. Aber die Diskussion über das Buch von Sarrazin hat unsere Gesellschaft weitergebracht. Es wird nun ehrlicher diskutiert. Vorher war die Diskussion um Zuwanderung verdruckster. In der Debatte um das Buch wurde klar, dass Zuwanderung unterschiedlich wahrgenommen wird. Es ist schon wahr, dass es ein Diplomingenieur aus Schweden hier einfacher hat als ein anderer Zuwanderer. Das wird seit Erscheinen des Buchs offener diskutiert. Umgekehrt sind platte Vorurteile und einfache Antworten, wie sie Sarrazin gegeben hat, auch klar in der Debatte zurückgewiesen worden. Die Diskussion um das Buch war ein Katalysator für viele Diskussionspunkte in der Integrationsdebatte.
Aktuell dreht sich die Integrationsdebatte um die doppelte Staatsbürgerschaft. Union und SPD wollen den Optionszwang abschaffen, aber im Detail gibt es neuen Streit. Wie soll es zu einer Verständigung kommen?
Man muss sich zunächst einmal klar machen, was für ein riesen Schritt diese Einigung für beide Seiten der Koalition ist. Für die Union hat die Staatsbürgerschaft einen enorm wichtigen Stellenwert. Die Grundauffassung, ein Mensch könne nur zu einem Staat eine Loyalität haben, war in CDU und CSU seit Jahrzehnten so etwas wie ein genetischer Code. Das war nicht integrationsfeindlich, weil die Aussage korrespondierte mit dem Satz: „Deswegen fördern wir Einbürgerung“. Und wer sich für zwei Staatsbürgerschaften entscheide, könne sich hier nie so integrieren, wie jemand, der sich klar zu diesem Land bekenne. Für die SPD war und ist das Gegenteil tiefe Überzeugung. Integration, so die Argumentation, gelingt nur dann, wenn wir erlauben, dass beide Staatsbürgerschaften nebeneinander existieren können. Die Sozialdemokraten waren und sind auch heute noch der Ansicht, man könne nicht von einem Menschen verlangen, sich zwischen zwei Staatsbürgerschaften zu entscheiden und er fühlt sich hier in Deutschland dann am wohlsten, wenn wir seine Wurzeln nicht kappen. Beides sind schlüssige Positionen, die sehr gut begründet sind. Und jetzt gibt es im Koalitionsvertrag einen Kompromiss, bei dem sich beide Seiten bewegt haben.
Vor allem in Ballungszentren gibt es Probleme
Die Einigung war bis zuletzt hart umstritten.
Nicht ohne Grund blieb dieser Punkt bis zur letzten Verhandlungsnacht der Koalitionsgespräche streitig und musste schließlich auf Chef-Ebene geklärt werden. Für beide Partner war die jeweilige Position nur schwer zu verlassen. Der Kompromiss lautet nun: Die Pflicht, sich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden zu müssen, fällt nicht generell weg, aber für die, die hier geboren – und aufgewachsen sind. Beide Seiten sollten sich an den Kompromiss gebunden fühlen und jetzt nicht nachverhandeln.
Aber was heißt das nun konkret? Wie will man „aufgewachsen“ definieren?
Die Umsetzung des Begriffes „aufgewachsen“ ist nicht leicht und verwaltungsfreundlich hinzubekommen. Und das Gesetz soll schließlich befrieden und nicht durch mehr Bürokratie neuen Ärger hervorrufen. Deswegen werde ich in einem Gesetzentwurf, der kommende Woche in die Ressortabstimmung geht, vorschlagen, dass das „aufgewachsen“ auf zwei Arten nachgewiesen werden kann: Entweder sollen die Betroffenen hier in Deutschland eine überwiegende Zeit verbracht haben, was man über das Melderecht nachweisen kann. Das ist aber immer noch recht aufwendig. Deshalb soll es eine zweite Möglichkeit geben, eine deutlich leichtere. Nämlich die Anknüpfung an einen einzigen Tatbestand, den jeder ohne bürokratischen Aufwand nachweisen kann: Das ist ein Schulabschluss in Deutschland. Also nicht der Schulbesuch, sondern der Abschluss. Jeder, der dann hier den Antrag auf doppelte Staatsbürgerschaft stellt, muss nur zwei Dokumente vorlegen: erstens die Geburtsurkunde und zweitens sein Abschlusszeugnis oder eben eine Bescheinigung der Meldebehörden. Der Nachweis eines Schulabschlusses ist natürlich einfacher und deshalb keine Hürde, sondern eine Erleichterung. Das ist ein handhabbarer und einfacher Vorschlag, der dem vereinbarten Kompromiss angemessen gerecht wird.
Was heißt für die, die keinen Schulabschluss haben und die Option Meldebescheinigung wählen?
Das wird man jetzt in den Gesetzesberatungen sehen, aber da werden wir einen angemessenen Zeitraum als Definition von „überwiegend“ finden.
Haben Sie eine zeitliche Vorstellung für das Gesetz?
Ich lege jetzt einen Vorschlag vor, der diskutiert werden wird. Und ich möchte, dass das Gesetz schnell verabschiedet wird und dann Praxis werden kann.
Wird es eine Art Übergangsregelung geben, für die, die sich jetzt für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen, aber noch nicht auf das neue Gesetz zurückgreifen können?
Wir brauchen da keine extra Regelung. Diejenigen, die zwischendurch ihre deutsche Staatsbürgerschaft durch Gesetz verloren haben, werden nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes rasch und unbürokratisch wieder eingebürgert.
Mit wie vielen Doppelpässen rechnen Sie denn?
Die Frage ist so nicht ganz präzise gestellt. Die Betroffenen sind ja seit ihrer Geburt Doppelstaatler. Nach jetzt noch geltendem Recht müssen sie sich im Alter zwischen 18 und 23 Jahren für eine Staatsbürgerschaft entscheiden. Wenn künftig, also nach neuem Recht, jährlich bis zu rund 40.000 Optionspflichtige beide Staatsangehörigkeiten behalten dürfen, würde die Zahl der Doppelstaatler ja nicht zunehmen. Sie würde sich nur nicht jährlich um diese Zahl vermindern.
Sie haben eine positive Entwicklung der Integrationsdebatte beschrieben. Wenn alles gut ist, müssen Sie sich doch auch nicht mehr mit Vertretern von Organisationen treffen.
Ich habe morgen zu einem Gespräch eingeladen, um auch zu hören und zu diskutieren, was nicht gut läuft. Was zum Beispiel auffällt ist, dass sich Probleme bei der Zuwanderung regional stark unterscheiden, vor allem in Ballungszentren gibt es Probleme. Deshalb ist es zum Beispiel wichtig, dass sich Zuwanderung über ganz Deutschland verteilt.
Hauptthema derzeit ist die Debatte um Zuwanderer aus EU-Ländern in deutsche Sozialsysteme. Laut Bundesagentur für Arbeit gibt es deutlich mehr Zuwanderer, die Hartz IV in Anspruch nehmen, als ursprünglich gedacht. Muss man sich das nochmal genauer ansehen?
Ja. Deshalb haben wir ja einen Staatssekretärs-Ausschuss eingesetzt, der erst einmal den genauen Sachverhalt feststellen und dann Vorschläge machen wird. Wichtig ist: Das schwierige Thema Integration und Zuwanderung werden wir nur meistern, wenn wir die Kraft zur Differenzierung aufbringen. Wenn alle sagen, Zuwanderung ist gut, egal, wer kommt, dann werden wir keine Zustimmung in der Bevölkerung bekommen. Wenn wir umgekehrt sagen, wir wollen keine Zuwanderung, dann wird Deutschland keine Zukunft haben. Also müssen wir in der politischen Diskussion sehr differenzieren. Als Beispiel: Wir verzeichnen steigende Asylbewerberzahlen. Im Januar sind sie nochmal angestiegen und zwar ganz überwiegend durch Bewerber aus Serbien, Mazedonien und beginnend jetzt auch Albanien. Und da gibt es natürlich Unterschiede zu beispielsweise Asylsuchenden aus Syrien. Ich werde etwa vorschlagen, dass wir Serbien als sicheres Herkunftsland bezeichnen. Menschen aus diesen Ländern werden nicht politisch verfolgt, ihre Asylanträge müssen rasch und klar beschieden werden. Wir wollen nicht, dass jemand unter dem Vorwand politisch verfolgt zu sein hierherkommt und dann, weil er in Wahrheit ökonomische Gründe hat, die Zustimmung in der Bevölkerung zu unseren Asyl-Grundsätzen diskreditiert. Wenn wir es nicht schaffen, hier klar zu differenzieren, werden wir die Zustimmung zu unserem Asylrecht nicht auf Dauer aufrecht halten können.
Es gibt eine wachsende Zahl von EU-Bürgern, die nach Deutschland kommen und hier das als Hartz IV bekannte Arbeitslosengeld II beziehen. Muss man das einfach hinnehmen?
Nein. Wir schauen uns die Regelungen genau an. Grundsätzlich gilt, dass man beispielsweise in den ersten drei Monaten des Lebens in Deutschland keinen Anspruch auf Hartz IV hat. Es sei denn, man hatte Arbeit oder ist selbstständig und das auch nur für einen Tag. Das ist auch ein weites Feld für Missbrauch. Meine Kritik setzt gar nicht allein bei den Zuwanderern an, sondern auch bei den Deutschen, die ihnen aus purem Eigennutz dabei „helfen“, die Berechtigung zum Bezug von Hartz IV zu erlangen. Mir kann keiner erzählen, dass einer der gerade hier angekommen ist und gar kein Deutsch spricht, gleich einen Gewerbeschein beantragt. Da helfen oft Leute mit eigenen Interessen. Menschen, die diese Zuwanderer ausbeuten. Sie organisieren den Bezug von Sozialleistungen und bekommen dafür Arbeiter für einen Hungerlohn in ihren Firmen. Das ist Missbrauch, hier wird mit den Zuwanderern ein mieses Geschäft betrieben. Und dagegen werden wir vorgehen müssen. Denn nur so werden wir Ängste und Sorgen der Bevölkerung auch zerstreuen können.
Das Gespräch führten Antje Sirleschtov und Christian Tretbar.