zum Hauptinhalt
Im Mahlstrom der Geschichte: Imre Kertész schreibt auch über Auschwitz - als conditio humana des 20. Jahrhunderts.
© Mike Wolff

Frankfurter Buchmesse: Imre Kertész letzte Aufzeichnungen: Das Ich als Hauptsache und Nebensache

Ein halbes Jahr nach seinem Tod erscheinen nun die letzten Aufzeichnungen des ungarischen Nobelpreisträgers Imre Kertész. Sie sind eine Sensation.

Unter den vermeintlich menschenfreundlichen Ratschlägen ist „Lebe jeden Tag so, als ob es dein letzter wäre“ der unmenschlichste. Kein psychischer Haushalt hält es auf Dauer aus, der Pflicht zur Lustmaximierung zu folgen oder sich einer Hierarchie bloßer Notwendigkeiten zu unterwerfen. Wenn sich jemand danach aber zumindest literarisch richtete, dann war es Imre Kertész. Schreibe jeden Satz so, als ob es dein letzter wäre, könnte über seinem Werk stehen. Schreibe ihn so, als ob du nicht aufatmen dürftest, wenn er doch einen Anschluss findet. Insbesondere die Tagebücher, in denen ein Ich mit jeder Faser seines Lebens enthalten ist und im selben Moment als denkbar unpersönlicher Gegenstand außen vor bleibt, leben von einer einzigartigen Dringlichkeit.

Wort um Wort entsteht hier, auch gegen das erklärte Programm eines „atonalen“ Schreibens, ein Ton stiller Verbindlichkeit. Die Genauigkeit des Gedankens, um die dieser Autor nach dem Vorbild von Albert Camus ringt, macht das Vertrauen aus, das man ihm entgegenbringt. „Allgemeiner Mangel an Ernst“: Das war der Schrecken, den er mit seinem Zeitalter verband und mit bitterer Nüchternheit bekämpfte. Das Ich dieser Prosa versucht, sich mit ebenso schmerzhafter Radikalität im Geschriebenen zu erkennen, wie es sich darin ausstreicht. Denn „es gilt zwei Dinge gleichzeitig zu verstehen: die unglaubliche Wichtigkeit und Bedeutung des einmaligen individuellen Seins und die unglaubliche Nebensächlichkeit und Bedeutungslosigkeit des einmaligen individuellen Seins.“

Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1991 bis 2001, die unter dem Titel „Der Betrachter“ nun ein halbes Jahr nach Kertész’ Tod auf Deutsch erscheinen, schließen die chronologische Lücke in einem autofiktionalen Universum, dessen Schlusssteine, die bis ins Jahr 2009 reichenden Tagebücher „Letzte Einkehr“ und der daraus entstandene gleichnamige Tagebuchroman, bereits zu lesen waren. In ihnen, einem Epitaph zu Lebzeiten, denkt er über die „Glückskatastrophe" des Literaturnobelpreises 2002 nach und berichtet von der Hinfälligkeit, die ihm eine Parkinson-Erkrankung über die sonstigen Zumutungen des Alters hinaus aufzwang.

Selbsterforschung ohne Exhibitionismus

Was diese vorletzte Einkehr mindestens so erschütternd macht, ist die Perspektive eines 60-Jährigen, der sein Ende heraufziehen sieht, doch den Kampf weder privat noch politisch verloren geben will. Kertész’ Verachtung für das Nachwende-Ungarn liest sich auf unheimliche Weise gegenwärtig. „Im ungarischen Bewusstsein gibt es keinen Platz für Konflikte“, heißt es in einer Eintragung von 1994, die auch auf das Autokratentum Viktor Orbáns zutreffen könnte. „Das ungarische Bewusstsein besteht in der sakralen Selbstbestätigung – es hat sich für ein falsches Geschichtsbewusstsein, literarischen Provinzialismus und die Lüge im Allgemeinen entschieden.“

Er sah darin auch die Nachwirkungen des kommunistischen Kádár-Regimes. „Die nationale Seinsform der Kollaboration. Die geschlossene Logik des Überlebenszwangs.“ In immer neuen Anläufen beschwört er „die Traurigkeit, die das ungarische Leben verströmt“ und den „geistigen Kleinmut“. Kertész brach noch einmal aus. Im unmittelbaren Anschluss an diese Tagebücher begann für ihn in Berlin eine neue Lebensphase, bevor er sich zum langen Sterben zurück nach Budapest begab und mit Ungarn versöhnte.

Beim Aufbruch nach Deutschland begleitete ihn seine zweite Frau, die ungarischstämmige Amerikanerin Magda Sass, von der er sagt, er verdanke ihr „die Wiedergeburt meines Lebens“. Die herzzerreißenden Passagen über „die große Zäsur“ davor, die mit dem ausnahmsweise datierten Eintrag vom 1. August 1995 beginnen, sollte sie besser nicht zu Gesicht bekommen. Sie gelten dem Abschied von seiner im Oktober danach verstorbenen ersten Frau Albina. Die schuldgetränkte Würdigung dieser Lebensliebe trägt durchaus bekenntnishafte Züge, dies jedoch im Namen einer Wahrheit, die keinerlei exhibitionistische Ziele verfolgt. Vielleicht ist man nirgends näher an Imre Kertész’ Projekt, etwas Inneres, an das man besser erst gar nicht rührt, im Lichte skrupelloser Selbsterforschung nach außen zu kehren.

Der Mensch wird verschwinden

Er hätte nie gehofft, dabei so etwas wie Selbsttransparenz zu erreichen. Er hielt aber auch nichts davon, vor dem Mangel an Zugriff auf das dunkle Selbst, den ihm seine Zeit einreden wollte, zu kapitulieren. „Die sogenannte Postmoderne“ und ihre Glaubenssätze waren ihm ein Graus: „Dass der Schriftsteller nicht an die Sprache herankommt. Dass er keine großangelegte Konzeption für die großen Dinge findet. Und daraus wird eine Tugend gemacht, mehr noch, der Stil.“ Bei solchen Einlassungen muss man Kertész allerdings gegen sich selbst verteidigen. Denn er teilt viele postmoderne Grunderfahrungen. Die Erfahrung, von sich selbst getrennt zu sein, die Erfahrung, von der richtigen Sprache abgeschnitten zu sein, in der sich Erkenntnis formulieren lässt, und die Erfahrung, dass die großen philosophischen, religiösen und ideologischen Erzählungen zerfallen sind.

Sie alle finden bei Kertész nur zu einer Sprache von lateinischer Klarheit, die, den berühmten Worten seines Helden Ludwig Wittgenstein folgend, darauf vertraut: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.“ Allein wovon man nicht reden könne, darüber müsse man schweigen. Insofern trennt ihn von einem Denker wie Jacques Derrida, den er wahrscheinlich nie gelesen hat, vor allem der Stil, nicht aber die Haltung, von einem Plauderer wie Milan Kundera, über den er zum wiederholten Male herzieht, alles. Auch Max Frischs Erzählung „Montauk“ ist ihm zu harmlos: „Kein Bitter, kein Schierling, nur ein angenehmer Campari.“ Postmodern auch die Verabschiedung eines transzendenten Gottes. Er ist zu einem reinen Sprachspiel mutiert. „Das Haustier muss an seinen Herrn, der Mensch an Gott denken. Was weder Gottes Existenz noch seine Nichtexistenz beweist, lediglich die menschliche Not, die der von Seufzen und hoffnungslosem Kummer erfüllten Stimmung in der Abenddämmerung gleicht.“

Die hereinbrechende Nacht räumt dabei für immer mit dem alten Auftrag des „Erkenne dich selbst“ auf. „Inzwischen muss sich der Mensch in totale Strukturen einfügen und Antlitz und Gewissenlosigkeit dieser Strukturen annehmen, um leben zu können. Eine Maschinen- und High Tech-Ameisengesellschaft entsteht, die vielleicht eine Art spartanische Moral haben wird, um sich den Bedrohungen der weiteren Außenwelt zu widersetzen. Unser Held und Hauptdarsteller, der Mensch, wird verschwinden. Wiewohl er nicht vollständig verschwinden kann, und das wird der künftige Konflikt sein.“

Auschwitz als conditio humana des 20. Jahrhunderts

Man möchte dieses den Alltag weitgehend aussparende Gedankenbuch am liebsten seitenweise zitieren, so sehr hat es bereits den Zustand seiner größten Dichte erreicht. Zusammenfassen lässt es sich allenfalls im Hinblick auf seine Motive. Zu ihnen gehört auch wieder die über alles Persönliche hinausgehende Erinnerung an Auschwitz, wohin er im Juli 1944 verschleppt wurde, bevor man ihn in ein Außenlager von Buchenwald brachte. Bei diesem Auschwitz handelt es sich nicht um das Gedenk-Auschwitz politischer Redner, von dem aus sich Geschichte verwalten lässt. Es ist der zugleich reale wie ins Mythologische gewachsene Beweis, dass die wölfischen Aspekte des Menschen jenseits aller Moral stets die Oberhand gewinnen können: „Das menschliche Zusammenleben gründet auf der unausgesprochenen Übereinkunft, im Menschen nicht wachzurufen, dass ihm sein bloßes Leben mehr, sogar entschieden mehr bedeutet als alle seine bislang verkündeten Werte.“

Mit naturhafter Wucht bricht dieses Verhängnis in den Alltag ein und spielt sich doch vollends im Raum der Kultur ab. Die Bilanz ist niederschmetternd: „Auschwitz wurde nicht wegen seines Auschwitz-Seins abgeschafft, sondern weil das Rad sich gedreht, die Machtzustände sich verändert hatten. Das ist die große Lehre dieser Sache: Darum lässt sie sich als eine paradigmatische Sachlage betrachten, die die conditio humana im 20. Jahrhundert zum Ausdruck bringt; und wir konnten seit Auschwitz keine moralische, ökonomische oder die Macht betreffende Wende miterleben, die wir als Widerlegung von Auschwitz hätten erleben können.“ Imre Kertész wagt diesen Gedanken nicht zum ersten Mal. Dass er ihn in jedem Lebensalter neu formulierte, ist womöglich das Bestürzendste dieser Tagebücher. In ihrem tiefen Pessimismus definieren sie nichtsdestoweniger das Gegenteil: die Chancen der Freiheit, die es zu ergreifen gilt.

Imre Kertész: Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991-2001. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Rowohlt, Reinbek 2016. 256 S., 19,95 €.

Zur Startseite