Jacques Derrida: Sinn und Un-Sinn
Der Philosoph Jacques Derrida war einer der prägendsten Theoretiker des 20. Jahrhunderts. Ein Filmporträt zeigt den späten, dünnhäutigen Derrida - 14 Jahre vor seinem Tod.
Zögerlich läuft er ins Bild, von rechts, die Landschaft ist karg, und als er zu sprechen anfängt, ist irgendwie klar, warum dieser Mann zu einer Ikone der Postmoderne werden musste. „Mit dem Überschreiten von Grenzen setzt das Denken ein“, sagt er. Das schlohweiße Haar, der durchdringende Blick aus braunen Augen, der weiße Schal verleihen ihm eine verletzliche Schönheit: Jacques Derrida. Schon 1990 hatte die ägyptische Filmemacherin Safaa Fathy dieses filmische Porträt über den französischen Philosophen gedreht, das nun in der Suhrkamp Filmedition unter dem Titel „Derrida, anderswo“ mit deutscher Übersetzung erschienen ist.
Derrida, das ist einer der prägendsten Theoretiker der 60er, 70er, 80er Jahre, und wenn seine Art zu denken sich gegen diese Art von Zuschreibung nicht sträuben würde, müsste man sagen: Er hat die Dekonstruktion erfunden. 1967 erscheint eines seiner Hauptwerke, die „Grammatologie“. Ein Paukenschlag, mit dem sich Derrida in erstarrten Philosophiediskursen Gehör verschafft. Er unternimmt eine kritische Re-Lektüre des Kanons – Platon, Kant, Heidegger –, arbeitet sich an den großen Begriffen ab – Zeichen, Schrift, Bedeutung – und etabliert ein spezifisches Begriffsvokabular, das aus den heutigen Geistes- und Kulturwissenschaften nicht mehr wegzudenken ist. Kein anderes philosophisches Werk beharrt bis in seine kleinsten rhetorischen Verästelungen derart auf der Dekonstruierbarkeit der Welt. Derrida bespiegelt die anderen Seiten aller Medaillen, für ihn ist „Sinn“ immer nur zum Preis von Un-Sinn zu haben, welchen es sichtbar zu machen gilt.
Meeresrauschen, Möwengeschrei. Die Kamera rückt Derrida ins Bild: „Alles was ich sage, ist von meinem Schweigen, von dem, was ich nicht sage, ebenso geprägt wie von dem, was ich sage.“ Es ist auch das Nicht-Gesagte, das Fathy gekonnt einfängt. An mehreren Orten filmt sie ihn – in seinem Geburtsland Algerien. Im Aquarium, im Museum, im Hörsaal. Derrida vor einer Tora, auf seinem Dachboden, am Grab seines Katers. Die Bilder bleiben suggestiv, aber nie wahllos, sie spinnen Derrida in eine Geschichte ein, die von seinen großen Lebensthemen erzählt: Schreiben, Freundschaft, Vergebung, Politik. Nahezu erstaunt über das, was sich alles angesammelt hat, betritt Derrida seinen Schuppen im Garten. Aus dem Dunkel wächst Papier hervor. Ob darin Briefe gelagert seien? „Nein, das sind Manuskripte. Ich weiß nicht, ob die hier rein wollen“, antwortet er, ohne Ironie, denn das Geschriebene hat ein Eigenleben, dessen nicht habhaft zu werden ist. „All das lebt bereits ohne mich“, fügt er hinzu.
Es ist ein später, dünnhäutiger Derrida, den Fathy porträtiert – vierzehn Jahre vor seinem Tod im Jahr 2004. Er spricht vom Tod seiner Mutter, vom Sterben, von Vergänglichkeit. Auch vom Zurückschauen auf die Spur, die das eigene Leben hinterlassen hat: „Mein dringlichster Wunsch wäre, alles noch einmal tun zu können.“ Und so ist dieser Film ein kleines Geschenk nicht nur an Derrida, sondern auch an ein von ihm geprägtes Zeitalter. Derrida ist gleichzeitig anderswo, vergangen und hier, heute. Das zeigt sich am schönsten in der Patina, die sich schon jetzt über die Bilder des Films gelegt hat. Sie zeigen seine Finger, auf einer altmodischen Tastatur tippend. Vorne auf der Ablage seines Autos liegt eine alte Kassette.
Die Kamera sucht seine Augen im Rückspiegel, als er Fathy durch sein Paris führt, wo er gelebt hat, vorbei an seiner Universität. „Seit fast dreißig Jahren lehre ich jeden Mittwoch um fünf“, sagt er, als sich die Tiefgarage öffnet. Im Hörsaal ist er ganz der charismatische Professor. Dicht an dicht sitzen die Zuhörenden, lauschen beglückt jedem Wort als sei es Gesetz, aber Derrida fragt: „Wie sprechen?“ Schreiben sei auch obszön, sagt er später, schließlich gehe man beinahe hochmütig davon aus, dass jemand das Geschriebene lesen wolle: „Ich empfinde eine Scham.“ Vielleicht bedürfen solche Worte tatsächlich eines Films, der sie mit seinen Bildern körperlich beglaubigt? Die „Lust, alles zu wiederholen“, sagt Derrida schließlich, sie sei eigentlich „Angst, die Traurigkeit über den sich nähernden Tod“.
- Safaa Fathy: Derrida, anderswo. Französische Originalfassung mit deutschem Voice Over. 68 Min. Suhrkamp Filmedition 2012. 19,90 Euro.
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