Fünf Jahre nach Fukushima: Das Gift der kleinen Dinge
Fukushima und die Kunst nach der Katastrophe: Jetzt gibt es Fotos, die das Unsichtbare erstmals wie im Röntgenbild zeigen - die Radioaktivität.
Die Katastrophe unter dem Röntgenschirm, so ungefähr sieht es aus. Die Haut, die Hülle wird transparent, die Schemen der Dinge, der Pflanzen, der kleinen Tiere sind mit Punkten übersät. Der Fall-out, ein Sternenbild in Schwarz-Weiß-Grau.
Ein Gummistiefel, gefunden bei einem Kindergarten, zehn Kilometer vom Kernkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt. Matsutake-Pilze aus einem Dorf 35 Kilometer weit weg, das Caesium sammelt sich in den Lamellen. Eine Schlange, 2012 in Namie aufgelesen, ebenfalls in der Präfektur Fukushima, sie ist am stärksten befallen, vor allem die Muskeln. Bei der 2013 in Namie gefundenen Schere sind die verrosteten Schneiden sechsfach stärker kontaminiert als der Griff, und bei dem fein verästelten Zypressenzweig konzentriert sich das Gift in den jüngeren Trieben.
Am 11.März 2011 riss die Flutwelle an Japans Küste 18.000 Menschen in den Tod
Ist das Kunst oder Naturwissenschaft, Forschung oder Fanal? Vielleicht ja beides, eine Art Epiphanie: Die Bilder, die der japanische Fotograf Masamichi Kagaya mit dem emeritierten Biotechnologieprofessor Satoshi Mori mittels Autoradiografie-Technik erstellt hat, machen das Unsichtbare sichtbar: Radioaktivität. Geduldig haben sie verstrahlte Objekte gesammelt und mit der Technik aus der Mikroskopie wie der Medizin experimentiert, bis es funktionierte. Das Ergebnis: stille Fotografien, vermeintlich unscheinbare Doppelbilder, denen die Magie des Schreckens innewohnt.
Vor fünf Jahren, am 11. März 2011, bebte vor der ostjapanischen Küste die Erde, die Flutwelle riss 18 000 Menschen in den Tod. Beim Kernkraftwerk Fukushima Daiichi fiel der Strom aus, die Folge: Kernschmelze, der GAU.
Schon im Herbst 2011 gab es in Berlin eine erste Ausstellung dazu, „Breaking News. Fukushima and the consequences“ in den Kunst-Werken. Die japanische, unter anderem in Berlin lebende Künstlerin Leiko Ikemura fragte nach der Bedeutung von Kunst im Angesicht der Katastrophe und lud Kollegen und Architekten zu Beiträgen ein. Kunst, sagte sie, reagiere nicht nur, sondern visualisiere die Risiken unserer Zeit schon vorab. Auch der erste Spielfilm über den Tsunami lief bereits im September 2011, auf dem Filmfest Venedig. Sono Sion war gerade mit dem Dreh von „Himizu“ beschäftigt, einem Lowbudgetfilm über Japans Jugend ohne Zukunft, als die Flutwelle die Küstenregion zerstörte. Kurzentschlossen schickte der Regisseur seine Helden mitten in die vom Tsunami heimgesuchte Gegend und radikalisierte den Plot. „Himizu“ wurde ein schrilles apokalyptisches Poem, angereichert mit einer Überdosis Wirklichkeit.
Tschernobyl, Fukushima: Todeszonen strahlen eine morbide Faszination aus
Seitdem hat es viele Versuche gegeben, sich von 3/11 und der Reaktorkatastrophe von Fukushima ein Bild zu machen. Die wie Streichholzmodelle zerdrückten Häuser, die Bootswracks auf Feldern, die übereinandergepurzelten Autos; die panisch verlassenen Häuser mit der stillgestellten Zeit darin; die zu Tausenden gestapelten schwarzen Plastikballen voller verseuchter Erde: Fotografien und Filme nach Art solcher Endzeitästhetik kennt man seit Tschernobyl. Im Februar konnte man sie auf der Berlinale wieder erleben, etwa in Nikolaus Geyrhalters Stillleben-Etüde „Homo sapiens“ über unbewohnbare und gottverlassene Orte überall auf der Welt.
Nature morte: Die Todeszone strahlt eine morbide Faszination aus. Ihr korrespondieren die Porträts, Fotos als Memoir, als Zeugnisse jener Opfer, die offiziell nicht existieren. Schon der ukrainische Fotograf Igor Kostin bat sie nach dem Super-Gau von Tschernobyl 1986 vor die Kamera, verstrahlte Menschen, die Liquidatoren zum Beispiel, die den Atommüll eigenhändig entsorgen mussten. Kostin wurde dabei selber verstrahlt. Auch nach Fukushima entstanden Fotoserien von gefährdeten Akw-Arbeitern und Dekontaminierern mit Schutzanzügen und -helmen.
Inzwischen gibt es zahlreiche Fukushima- Dokumentarfilme, ebenso fiktive Annäherungen an Heimatverlust, Traumatisierung und Lebensgefahr. Zum Beispiel die Dokumentationen „Nuclear Nation“ 1 und 2, unter anderem mit dem Bürgermeister von Futaba, der einen Ort regiert, der nicht mehr existiert, und mit den alten, entwurzelten Leuten, die jetzt auf Matratzen in der Turnhalle hausen oder in der entwürdigenden Enge eines Containerdorfs.
Auch Doris Dörries Film "Grüße aus Fukushima" spielt in der Sperrzone
Geisterstädte, Geisterdörfer, die Szenen wiederholen sich. Die Heimatlosen, die zwei Stunden nach Hause zurück dürfen, um ein paar Habseligkeiten zusammenzuklauben. Die höflichen Lügen und Verbeugungen der Verantwortlichen bei Tepco, der Betreiberfirma, die bis heute für das Reaktorgelände zuständig ist – 30 Jahre soll es noch dauern, bis alles wieder sauber ist. Der Bauer, der seine von der Strahlung missgebildeten Rinder nicht tötet, er bringt es nicht übers Herz. Und immer wieder: Menschen in weißen Overalls vor verwüsteten Häusern, Mondlandschaften, Mondgeschichten. Auch in Doris Dörries Schwarz-Weiß-Spielfilm „Grüße aus Fukushima“: Eine liebeskummergeplagte junge Deutsche flüchtet als Helferin nach Japan und gerät an eine wunderliche Alte, die aus der Notunterkunft in ihr Haus in der Sperrzone zurückkehrt. Zwei Schmerzensfrauen, die einander die Trauer lehren, und die Lebenslust auch. Der Film läuft seit Donnerstag in den Kinos.
Bilder können Widerspruch einlegen, gegen das Verharmlosen, das Vergessen, das Schweigen. Allen Atomausstiegsbeschlüssen zum Trotz wird ja weiterhin die Notwendigkeit der Kernenergie im 21. Jahrhundert diskutiert, das Für und Wider erörtert. Höchste Sicherheitsstandards hier, Störfälle da, Atomkraft, nein danke, Atomkraft, ja bitte: Nicht nur in China sind neue Reaktoren in Bau, auch in England und Finnland. Dass wir uns auf die Kernkraft keinen rechten Reim machen können (außer dass sie zur mörderischsten Waffe seit Erfindung des Faustkeils taugt), hat damit zu tun, dass wir sinnliche Wesen sind. Wir fürchten nur, was wir sehen.
Der Fotograf möchte das Bewusstsein für die unsichtbare Gefahr schärfen
Wie nun zeigt man eine Gefahr, die man nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken kann? Der Klassiker bei der Strahlenmessung ist der Geigerzähler. Das Knacken der ionisierenden Teilchen, sprich: kleiner Stromstöße ist längst zum Synonym für Radioaktivität geworden. Und bei der Sichtbarmachung hilft die Autoradiografie, wie Masamichi Kagaya und Satoshi Mori sie sich bei ihren Fotoarbeiten zunutze machten. In Japan ist ihr Projekt als Buch erschienen, ein internationaler Verlag wird noch gesucht.
Wer in der Nähe eines Atomkraftwerks lebt (und welcher Bewohner einer Industrienation täte das nicht), möge „nicht vergessen, dass Sie eines Tages möglicherweise aus Ihrer Stadt oder Ihrem Land weggehen müssen“, schreibt Masamichi Kagaya. Mit seinen Bildern will er das Bewusstsein für die Möglichkeit größerer Akw-Unfälle und ihrer verheerenden Folgen schärfen. „Visualizing radiation“ nennt er das – ganz im Sinne jener Risiko-Visualisierung, wie Leiko Ikemura sie sich schon 2011 wünschte.
Der Tsunami, die Flüchtlinge, die Bilder von damals und heute schieben sich übereinander
Eine Ratte, ein Karpfen, eine zarte Vogelfeder, ein Gartenhandschuh, der Filter einer Klimaanlage, Münzen, Kiwifrüchte, weitere Pflanzen und Fische: Es ist das Gift der kleinen Dinge, der Gau en miniature. Die Japaner lieben Bonsaipflanzen.
Zu den Höhepunkten der Biennale in Venedig 2015 zählten die von schlüsselgespickten, blutroten Netzen umsponnenen Boote im japanischen Pavillon, eine Arbeit von Chiharu Shiota. Der Tsunami, die Flüchtlinge: Die Katastrophenbilder von damals und heute überlagern sich. Auch Architekturen und Installationen zur Frage des Wiederaufbaus haben wieder Konjunktur. Auf die Workshops für Stelzenhäuser aus Tsunami-Strandgut folgen Entwürfe temporärer Behausungen, module Bauten als Visionen einer prekären Gegenwart. Die Havarie flexibilisiert die Gebäudestatik, die Städteplanung, das Denken. Vorausgesetzt, man nimmt das Unsichtbare zur Kenntnis.
Weitere Infos zu den Fotos: www.autoradiograph.org. Die dazugehörige englischsprachige App zeigt 43 Bilder.
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