Martensteins Berlinale (8): Das Gerede von Toleranz und Diversity zerbröselt wie Dreck
Unser Kolumnist nimmt Woody Allen in Schutz und Michael Haneke und teilt noch einmal gegen Berlinale-Chef Dieter Kosslick aus.
Einer meiner Lieblingsfilme ist von 1943, ein Western, er heißt „Ritt zum Ox-Bow“. Er handelt von der Lynchjustiz an drei angeblichen Pferdedieben, die unschuldig sind. „Wir in Texas“, sagt jemand, „verlassen uns nicht auf Gerichte“. Im Fall des Regisseurs Woody Allen reden manche genauso. Allen soll seine Tochter missbraucht haben. Seine Exfrau und die damals Siebenjährige behaupten das. Zwei Gutachter haben den Fall untersucht, beide kamen zum Ergebnis, dass an dem Vorwurf nichts dran ist. Offenbar hat die Mutter das Kind manipuliert. Der einzige damals halbwegs erwachsene Zeuge für Familieninterna, Allens Sohn Moses, bestätigt dies. Das Verfahren wurde eingestellt. Die Indizien reichten nicht mal für einen Prozess.
Natürlich ist auch die Justiz fehlbar. Aber nach allen Kriterien der Wahrscheinlichkeit und der Rechtstaatlichkeit ist Woody Allen kein Täter, sondern ein Opfer von Rufmord. Er ist so unschuldig wie der Oberst Dreyfus, den der antisemitische Zeitgeist und seine willigen Vollstrecker im Jahre 1894 zum Krepieren auf die Teufelsinsel geschickt haben.
Was Haneke über den neuen Tugend-Terror sagt
Der Berlinale-Chef Dieter Kosslick ist in einem Interview auf Woody Allen angesprochen worden. Noch vor zwei Jahren hätte Kosslick, wenn Woody Allen ihm einen Film anbietet, vor Stolz und Glück mit Messer und Gabel seinen roten Schal verspeist. Heute sagt er: „Allen hat mir nie einen Film angeboten, und vielleicht war das gut so.“ Ein eleganter Fußtritt, für einen wahrscheinlich Unschuldigen, der auf dem Boden liegt, Chapeau! Es ist sehr traurig, zu wissen, dass ein sympathischer Mann wie Kosslick in dem Film „Ritt zum Ox-Bow“ und in der Dreyfus-Affäre auf der Seite des Mobs gestanden hätte. Man braucht heute nicht viel Mut dazu, um nein zu sagen, wenn einem Unschuldigen der Strick um den Hals gelegt wird. Nur ein klein wenig. All das Berlinale-Gerede über Diversity, Solidarität und Toleranz zerbröselt wie Dreck, vor dem ungeheuerlichen Fall der sozialen Hinrichtung des Menschen Woody Allen.
Der nächste ist Michael Haneke. Der wunderbare Regisseur Haneke hat zu dem neuen Tugend-Terror gesagt: „Oshimas Film ,Im Reich der Sinne’ könnte heute nicht mehr gedreht werden, weil die Förderungsinstitutionen in vorauseilendem Gehorsam gegenüber diesem Terror das nicht zulassen würden. Das alles hat nichts damit zu tun, dass jeder sexuelle Übergriff zu verurteilen und zu bestrafen ist. Aber die Hexenjagd sollte man im Mittelalter belassen.“ Die Jagd auf Haneke ist eröffnet.
Harald Martenstein