Sexismus-Debatte: Wenn Schatten auf die Kunst fallen
Starke Kunst hält es aus, wenn sie befragt und mit anderen Augen betrachtet wird, so wie es jetzt im Licht von „MeToo“ passiert. Doch Verbote helfen nicht. Eine Analyse.
Ein Puccini-Wochenende in Leipzig. Die Oper spielt „Tosca“, „Turandot“ und „Madame Butterfly“. Was für eine großartige und einfache Idee, lang lebe unser Repertoirebetrieb, der so etwas möglich macht. Jedes Stück für sich genommen ist ein Purgatorium, ein Wirbelstrom, in dem die Gefühle die Gedanken übertönen, und wer wäre nicht nah am Wasser gebaut, wenn die junge Japanerin, der alles genommen wird, sich mit dem Dolch nach alter Sitte das Leben nimmt.
Jede dieser Opern – und da gehört auch „La Bohème“ dazu – zersprengt einem mit einer massiven Dosis von Glücksversprechen und Grausamkeit das Herz. Doch in dieser Zusammenballung der Emotionen an drei Abenden hintereinander, in den guten Leipziger Aufführungen, tritt noch etwas hart hervor: das Verbrechen. Und das Bild von Frauen. „Tosca“ zeigt Erpressung, Folter und eine versuchte Vergewaltigung, die das potenzielle Opfer verhindert, indem sie den Angreifer tötet. „Butterfly“ ist ein Fall von Menschenhandel und Kinderprostitution und wirft die Frage auf, ob nicht auch seelische Grausamkeit strafbar sein könnte. Bei „Turandot“ liegt die Sache etwas anders: Hier verbinden sich Staatsräson und Liebesträumerei. Und eine alte Schuld: Prinzessin Turandot will eine Ahnin rächen, die vor Menschengedenken Opfer männlicher Gewalt wurde.
Giacomo Puccini hat kein Ende für diese seine letzte Oper gefunden. Er starb 1924. Wenn Puccini die Definition von Oper ist, dann bedeutet Oper, dass man Frauen – und auch Männern – beim Leiden und beim Sterben zuschaut. War der Komponist aus der Toskana nicht selbst ein sex maniac, ein Schürzenjäger, ein homme à femmes? Wie soll man diese Männer heute nennen, wenn so viele Künstler schwerer Straftaten gegen Frauen beschuldigt werden?
Was man gesehen hat, kann man nicht streichen
Es sträubt sich alles, Woody Allen und Dieter Wedel in einem Satz zu nennen, aber so sieht es jetzt aus: Ein Theater in den USA hat ein Stück von Woody Allen abgesetzt, Schauspieler distanzieren sich von ihm, weil er seine Adoptivtochter missbraucht haben soll. Gegen Wedel laufen nach den Berichten von Schauspielerinnen in der „Zeit“ Ermittlungen. Keine Wiederholungen von Wedel-Serien deshalb mehr? Und nie wieder Woody Allen? Das funktioniert schon deswegen nicht, weil seine Filme weit verbreitet sind, im Netz, als DVD, in Büchern, im kollektiven Gedächtnis. Auf Nimmerwiedersehen, Woody? Das kann jeder für sich selbst entscheiden. Sonst ist es Diktatur.
So viele schreckliche Dinge werden erst jetzt bekannt, nach Jahrzehnten. Sie stecken im System. Es sind lange, dunkle Schatten, die auf Kunstwerke fallen. Die Frauen und „MeToo“, das ist nicht einfach eine Debatte von vielen. „MeToo“ verändert die Gesellschaft und die Wahrnehmung von Kunst. Puccini also: Hat er sich als Privatmann an Frauen schuldig gemacht? Es ist richtig, diese Frage zu stellen. Sind seine Opern Fantasien oder reale Berichte, Kompensation, Wiedergutmachung?
Die Unsicherheit bleibt
Darauf gibt es keine Antwort. Die Unruhe, die Unsicherheit bleibt. So wie bei Richard Wagners Musik für mich das brutale antisemitische Denken des Komponisten immer mitschwingt. Ich kann davon nicht völlig absehen. Puccini übrigens hat Wagner verehrt. In seinen Opern klingen Wagner’sche Farben durch.
Kommen wir in eine Phase der Inquisition? Doch nicht: Es geht um Aufklärung. Das Streben nach political correctness, nach einer Welt ohne verletzenden Ausdruck, konkurriert und kollidiert mit der Freiheitspraxis, an die wir uns gewöhnt haben. Die eine relativ junge Errungenschaft der letzten fünfzig, sechzig Jahre ist. Das gilt auch für das gesellschaftlich Korrekte: auch das ein Ergebnis von 1968ff. und im Prinzip ein Fortschritt.
Aber lässt sich deshalb einfach so sagen, Eugen Gomringers Gedicht auf der Wand einer Hochschule in Berlin sei sexistisch? Wer soll das beweisen, wenn Vieldeutigkeit doch ein Grundzug des Lyrischen ist, das Offene, das letztlich nicht erklärt werden will und auch nicht erklärt werden kann?
Es geht um Interpretation, um Auslegung. Ich hätte nichts dagegen, mit einer Blume oder Allee verglichen zu werden. Viele Frauen sehen das anders. Die Grundfrage ist, ob wir wirklich alle Kunst neu betrachten und eventuell Konsequenzen ziehen müssen. Sollte „MeToo“ (und alles, was daraus folgt) revolutionären Charakter haben, dann geht es auch um die Existenz der Kunst. Die Rolle der Kunst steht in Revolutionen immer zur Debatte, die Kunst ist in Gefahr, das ist eine historische Tatsache. Das abschreckendste Beispiel gibt die maoistische Kulturevolution.
Schatten fallen auf Werke. Das lässt sich nicht leugnen. Wer ins Theater geht, ins Kino, wer Bücher öffnet, spürt dieses Unbehagen jetzt. Haben wir etwas übersehen? Bei Goethe zum Beispiel: Der Dichter und Dramatiker schuf im „Faust“ die Gretchentragödie. Feinste Verse, zartes Gefühl für ein Mädchen, das ihr Kind tötet und von himmlischen Mächten gerettet wird. Während der Mann, der sie verführt hat, weiter fliegt und dröhnt, ihm gehört die Welt. Im Leben des Juristen Goethe sah es anders aus. Kindsmörderinnen waren im 18. Jahrhundert ein großes Thema. Goethe hat sich damit ausgiebig beschäftigt, was ihn nicht davon abhielt, im konkreten Fall die Hinrichtung einer jungen Frau zu befürworten, die zur Kindsmörderin geworden war. Die keine Chance hatte, so jung, unverheiratet, niemand half ihr. Wie bigott von Goethe, wie verlogen ist diese „Faust“-Dichtung?
Oder Heinrich von Kleist. Am Wannsee erschießt er erst 1811 die Freundin Henriette Vogel und dann sich selbst. Man hat immer gern von Doppelselbstmord gesprochen, aber war es nicht ein Mord? Kleists Dramen strotzen vor Gewalt, zumal die „Penthesilea“. Da zerfleischt die Amazonenkönigin im Liebesrausch ihren griechischen Geliebten Achill. Was ist davon zu halten? So viel: Wir konsumieren den „Tatort“ und etliche andere blutrünstige Krimiserien im Fernsehen wie Kartoffelchips. Dabei werden offenbar Grundbedürfnisse befriedigt.
Verglichen mit den Gewaltexzessen und der Festschreibung weiblicher Rollen in den Massenmedien sind die Bilder des polnisch-französischen Malers Balthus (1908-2001) harmlos. Auch sein Werk verfinstert sich. „Thérèse Dreaming“, die Darstellung eines jungen Mädchens in lasziver Haltung im Metropolitan Museum of Art in New York, steht plötzlich in der Kritik. Es gibt Forderungen, das Bild abzuhängen, es animiere zum Missbrauch, zu schmutzigen Gedanken – doch dafür muss man das Bild so sehen und sehen wollen, sexuell aufgeladen.
Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums, des Liebieghauses und der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main, hat in einem Gespräch mit der „FAZ“ treffend von der „eigenen Autonomie und Wahrheit“ von Kunstwerken gesprochen, die man weder mit dem Dargestellten noch mit dem Künstler gleichsetzen könne: „Kunstwerke werden immer auch im Kontext des Begehrens geschaffen.“
Balthus hat eine mögliche pädophile Sicht seiner Kunst stets abgelehnt. Ihm ist persönlich auch nichts angelastet worden. Dennoch fällt der Schatten auf die Kunst von Balthus. Ein Schatten, der erhellt – dass es „saubere“ Kunst niemals geben kann. Oder nur für Puritaner.
Die Manchester Art Gallery hat ein Gemälde von J. W. Waterhouse aus dem Jahr 1896 von der Wand genommen. „Hylas und die Nymphen“ zeige den nackten weiblichen Körper als bloße Dekoration, erklärt die Museumsleitung. Das mag in diesem spätviktorianischen, unter Kitschverdacht stehenden Softporno durchaus so sein. Aber der Mann ist nicht viel anders dargestellt; auch er ein Lustobjekt.
Ein Schatten, der erhellt
Wenn man sich im Dunklen bewegt, muss man vorsichtig gehen. Entscheidend sind die Unterschiede in all diesen Beispielen, die in der Auflistung nichts Beschwichtigendes oder Exkulpierendes – Künstler sind halt so – haben sollen. Dieter Wedel könnte, darauf deutet einiges hin, die Grenze des Erlaubten überschritten haben. Wenn Handlungen und Praktiken im Kunstbetrieb unter das Strafrecht fallen, wenn Taten endlich ans Licht kommen und verfolgt werden, dann geht das nicht gegen die Freiheit der Kunst. Unrecht ist immer Unrecht, Künstlertum und Genie schützt vor Strafe nicht. Und Kriminelle können große Künstler sein.
Der Schauspieler Kevin Spacey, dem mehrere jüngere Kollegen sexuelle Belästigung vorwerfen, wird aus einem Film herausgeschnitten. Eine Ausstellung des Modefotografen Bruce Weber in Hamburg findet nicht statt, weil er männliche Models sexuell belästigt haben soll. Die National Gallery in Washington sagt eine Schau des Malers Chuck Close ab. Er soll Frauen sexuell belästigt haben. Das sind schwerwiegende Vorwürfe und harte Maßnahmen, auf den Verdacht hin – allerdings dazu geeignet, überhaupt einmal die Schwere und das Ausmaß sexueller Gewalt in der Gesellschaft deutlich zu machen. Jede Institution muss so etwas selbst entscheiden. Der Preis ist dabei hoch: Hier wird den Rechtspopulisten in die Hände gespielt, die aus anderen Gründen freie, freizügige Kunst bekämpfen.
Gustave Courbet malte 1866 im Auftrag eines türkischen Diplomaten in Paris das Bild „L'origine du monde“. Dargestellt ist ein nackter weiblicher Torso, der Blick fällt direkt auf Schamhaar und Vagina. Über das singuläre Werk ist unendlich viel geschrieben worden, die Deutungen gehen in alle Richtungen, vom Sündenfall über das Mythologische bis hin zum sexuellen Stimulans. Das Bild war die meiste Zeit verborgen und verhüllt, es befand sich zuletzt im Privathaus des Psychoanalytikers Jacques Lacan. Seit 1985 erst hängt dieses außergewöhnliche und aufwühlend sinnliche Werk im Musée d Orsay in Paris: in aller Offenheit. Sein Anblick mag Menschen verstören, schockieren, erfreuen, zum Staunen bringen oder befreien.
Ja! Und: Sind wir nicht mündige Bürger, erwachsen und leidlich gebildet? Niemand muss sich den „Ursprung der Welt“ anschauen. Es gibt auch keine Pflicht, Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ zu lesen oder Werke von James Joyce und Henry Miller, die Skandal gemacht haben und zeitweise verboten waren. Selbst wenn sie pornografisch sind, weiß man doch auch, dass Pornografie nicht verboten ist. Wenn diese Schatten auf Künstler und ihre Werke fallen, erinnert ein neuer Blick auf sie daran, dass es sich hier um eine frisch erkämpfte Freiheit handelt, selbst in Europa und den USA. Die Kunst und die Künstler sind, historisch betrachtet, viel mehr unfrei als frei gewesen. Das scheint sich nun wieder zu ändern, das Rad wird zurückgedreht, von Ankara bis Warschau. Bei uns?
Was ist mit "Lolita"?
„Lolita“ erschien 1959 auf deutsch, ohne größere Beanstandung. Es ist die Geschichte eines obsessiven Charakters, des Literaturwissenschaftlers Humbert Humbert, und einer Beziehung zu einer minderjährigen „Nymphette“, wie er die jungen Mädchen nennt, die er begehrt. Eine Aufforderung zum Missbrauch?
Starke Kunst hält es aus, wenn sie befragt und mit anderen Augen betrachtet wird, so wie es jetzt im Licht von „MeToo“ passiert. Das bedeutet, dass man sie ernst nimmt. In einer weitgehend agnostischen Welt wird der Kunst – schon seit Courbets Zeiten – allerhand aufgebürdet. Sie soll die Welt zeigen, verklären und erklären und dabei moralisch sein. Sie soll Sinn stiften, die Menschen zusammenführen. Aber das vermochte schon die Religion eines Tages nicht mehr, aus deren Zwängen die Kunst sich in einem jahrhundertelangen Prozess befreit hat.
Bei all dem geht es um Individualität und Menschenwürde, um Werte, die das Grundgesetz schützt. Verbote helfen nicht. Die Manchester Art Gallery hat das Abhängen des Nymphenteichs als temporäre kuratorische Aktion deklariert – als Konzeptkunst. Schwer auszuhalten, aber auch das gehört zur Kunstfreiheit des Betriebs. Auf Wiedersehen, Mr. Waterhouse!