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Martin Gressmann
© Kai-Uwe Heinrich

Im Kino: "Das Gelände": Blutiger Boden

Martin Gressmann drehte jahrzehntelang auf dem Grundstück im Berliner Regierungsviertel, wo einst die Zentrale des NS-Terrors lag. Jetzt kommt seine Doku „Das Gelände“ ins Kino.

Das Grundstück wird vor allem als Irritation wahrgenommen. Es zwingt Autos, Radfahrer und den M29 zwischen Kochstraße und Anhalter Bahnhof zweimal um die Ecke, statt sie geradeaus fahren zu lassen. Eine kurze Störung, klein und unbedeutend im Vergleich zu dem, was früher von diesem Ort ausging. Auf dem Gelände an der Niederkirchnerstraße, das heute den einprägsamen Alliterationsnamen „Topographie des Terrors“ trägt, befanden sich in der NS-Zeit die Hauptquartiere von Gestapo, SS und SD und das Reichssicherheitshauptamt, dort wurde der Massenmord an Juden geplant. Alle bewusst mitten in der Stadt platziert, in idyllischen Barockgebäuden aus heilerer Zeit. Heinrich Himmler hatte hier sein Büro. An der Prinz-Albrecht-Straße 8, so die historische Adresse, verrichteten die „Schreibtischtäter“ ihr fürchterliches Werk. Es ist der bedeutendste authentische Täterort in Deutschland.

Martin Gressmann kennt hier jeden Stein. „Dieser Mauerstumpf ist kaiserzeitlich“, erklärt er, „aber die Reste dieser Stahlträger sind aus der Nazizeit. An ihnen war ein Sichtschutz befestigt, damit die Gäste des Tanzcafés nebenan und die Mitarbeiter im Europahaus die Häftlinge im Hof nicht sehen mussten.“ 27 Jahre, von 1985 bis 2012, hat er das Gelände immer wieder mit der Kamera besucht. Der Film, der daraus entstanden ist, heißt auch genau so: „Das Gelände“. Er kommt am Mittwoch, dem Jahrestag des Mauerfalls, in die Kinos.

Anders als bei Langzeitdokumentationen wie „Die Kinder von Golzow“ rückt er keine Menschen in den Mittelpunkt. Auch nicht die Mauer, deren Reste sich nach wie vor am nördlichen Rand des Grundstücks entlangziehen, oder die schwierigen Entstehungsgeschichte der Stiftung Topographie des Terrors. Im Mittelpunkt steht das Gelände selbst, seine jahreszeitlichen Metamorphosen, die schrecklichen Geheimnisse, die es birgt, die Versuche, sie zu bewältigen, das Scheitern daran. Nur etwas mehr als 90 Minuten dauert der Film, doch sein langsames Erzähltempo spiegelt die jahrzehntelange Ratlosigkeit aller Beteiligten im Umgang mit diesem Ort.

Die Geschichte des Geländes hört mit der Nazizeit nicht auf

„Hier liegt noch der Originalasphalt des Autodroms“, erzählt Gressmann. Während an der Niederkirchnerstraße Busse im Minutentakt halten, verliert sich kaum jemand in den hinteren Teil. Vor 200 Jahren muss hier ein schöner Garten gewesen sein, gestaltet von Lenné. Inzwischen ist ein innerstädtischer Urwald entstanden. Pflanzen, denen Gressmann einige Aufmerksamkeit widmet. Ausführlich lässt er im Film Botanikerin Leonie Fischer von der TU Berlin erklären, dass Tannen, die man kappt, den noch vorhandenen Trieb als neuen Leittrieb nutzen. Und hier muss ordentlich gekappt worden sein, die Nachbarn haben sich kostenlos mit Weihnachtsbäumen versorgt. Auch das Autodrom ist vielen noch in Erinnerung.

Bei Harry Toste, besser bekannt als Strapsen-Harry, konnte man Fahren ohne Führerschein üben. Außerdem betrieb er an der Bundesallee ein Travestietheater, das verwitterte Werbeschild „Dream Boys Lachbühne“ ist im Film kurz zu sehen. Rosa von Praunheim hat Strapsen-Harry in seinem Film „Stolz und schwul“ gewürdigt, 2004 ist er gestorben, mit 97 Jahren. Die Geschichte des Geländes hört mit der Nazizeit nicht auf. Sie sucht sich neue Leittriebe.

Die Natur ist eigentliche Protagonistin dieses Films

Martin Gressmann ist ein eher stiller Mensch. Er beobachtet gerne, lässt Dinge für sich sprechen. Auch in der Doku. Ein flatterndes Werbeplakat im Wind. Ein Sessel, der seine Schuldigkeit getan hat, abgestellt im Schlamm. Eine fehlende Kachel am Mosaik des früheren Reichsluftfahrtministeriums. Stumme Zeugen, die ebenso beredt von dem Gelände erzählen wie manch menschlicher Protagonist.

Aus der Ruhe lässt sich Gressmann dabei nicht bringen. Als grölende Touristen mit dem Bierbike ins Bild radeln, reißt er die Kamera nicht etwa herum, um das dankbare Motiv einzufangen. Sondern wartet geduldig, bis sie hinter einer Säule wieder auftauchen. In einer anderen Szene erklingt Marschmusik, aus der Ferne, verweht. Erst allmählich wird sie lauter, man sieht eine Militärkapelle und Hanna-Renate Laurien, damals Präsidentin des Abgeordnetenhauses, wie sie sowjetische Soldaten verabschiedet. Zeitgeschichte, die sich quasi durch den Nebeneingang ins Bild schleicht – und kurz darauf wieder von einem Platzregen hinauskomplimentiert wird. Die Natur, sie ist die eigentliche Protagonistin dieses Films.

Geboren in Hamburg, lebt Martin Gressmann seit 1982 in Berlin. „Das Gelände“ – ausgezeichnet mit dem Preis der Deutschen Filmkritik 2015 – ist seine erste größere Regiearbeit. Eigentlich ist er Kameramann, war Assistent von Ulrike Ottinger oder Mitarbeiter von Dominik Graf bei „Das Wispern im Berg der Dinge“. Auf die Topographie aufmerksam wurde er schon früh, als Anfang der 80er Jahre im Martin-Gropius-Bau die Ausstellung „Preußen – Versuch einer Bilanz“ stattfand. Für die Internationale Bauausstellung wollte er einen Kurzfilm über das Gelände drehen, daraus wurde nichts. Aber: „Ich hatte immer das Gefühl, da steckt noch mehr in der Erde.“

Sämtliche Gesprächspartner bleiben unsichtbar

Tatsächlich wurde hier jahrelang Archäologie des 20. Jahrhunderts betrieben. Die Abrissfirmen, die das noch von Schinkel umgestaltete Prinz-Albrecht-Palais 1949 beseitigten, haben schlampig gearbeitet. Die Keller, damals nur mit Erde bedeckt, sind heute die letzten sichtbaren Überreste der Terrorzentrale. Für das von Peter Zumthor geplante, wegen Kostenexplosion nie gebaute Dokumentationszentrum hat man viel gebuddelt. Der gelbe Kran, der neun Jahre lang auf dem Gelände stand, wurde zum Fanal.

Er hat nie eine einzige Stele transportiert, kostete aber eine vierstellige Mietsumme – am Tag. 2006 wurde er abgerissen, der Film zeigt den Augenblick, in dem er elegant und grazil zusammenklappt. Wieder war eine Episode auf dem Gelände vorbei. Zumthor kommt im Film selbst zu Wort, wie auch Architekturkritiker Dieter Hoffmann-Axthelm, der beim Tunix-Kongress 1979 als einer der ersten auf das Gelände aufmerksam gemacht hat. Ungewohnt: Sämtliche Gesprächspartner bleiben unsichtbar. Eine Zumutung, an die man sich schnell gewöhnt. Keine Einblendung von Zeitzeugen unterbricht im Guido-Knoop-Stil den Fluss des Sehens.

Wie findet man nach so vielen Jahren ein Ende? „Ich wollte aufhören, als ich das Gefühl hatte, das Gelände kommt zur Ruhe“, erklärt Gressmann. Der Moment war gekommen, als 2010 das neue, viel schlichtere Dokumentationszentrum von Ursula Wilms eingeweiht wurde. Jetzt ist das Gebiet großflächig mit Schotter bedeckt, eine Idee des Landschaftsarchitekten Heinz Wallmann. Man muss befürchten, dass die Assoziation mit Eisenbahngleisen und Auschwitz unbeabsichtigt ist. Der Schotter bedeckt Geschichte erneut, das Gelände redet nicht mehr. Doch in der Schlusseinstellung von Gressmanns Film sprießt ein Trieb zwischen den Steinen. Das letzte Wort haben die Pflanzen.

In den Kinos City Kino Wedding, fsk und Laden Kino.

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