Zum Tod von Fritz Stern: Beobachten und Teilhaben
Mahner, Mittler, Humanist: Der große amerikanische Historikers und Deutschland-Kenner Fritz Stern ist mit 90 Jahren in New York gestorben. Ein Nachruf.
Seinen 90. Geburtstag hat er nur um wenige Monate überlebt. Das hohe runde Datum Anfang Februar hatte nochmals vor Augen geführt, was die Deutschen an Fritz Stern hatten. Sein Tod am Mittwoch vollendet nun das Bild des amerikanisch-deutschen Historikers, der wie kaum ein anderer die Beschäftigung der Deutschen mit ihrer Geschichte mit seinem Nachdenken, seinen Fragen und seine Stellungnahmen bereichert hat. Seit vielen Jahrzehnten hat er den Deutschen einen kritischen, durchaus nationalpädagogischen, aber im Grunde doch wohlwollenden Spiegel vorgehalten. In den Debatten über die Wege und Irrwege der neueren deutschen Geschichte war Fritz Stern ein unverzichtbare Größe.
Das war ihm beileibe nicht vorgezeichnet. Der 1926 geborene Breslauer Professorensohn aus der deutsch-jüdischen Bildungsschicht, der im September 1938 mit seiner Familie aus Deutschland nach Amerika fliehen musste, stand der verlorenen Heimat zunächst mit großer Distanz gegenüber. Der junge Historiker fühlte sich, wie er später berichtet hat, ganz und gar als Amerikaner. Erst nach und nach habe er „ein zweites deutsches Leben“ erworben.
Fritz Stern entstammte der Welt des europäischen Bürgertums
Doch das wurde ungemein fruchtbar für seine früheren Landsleute, denn es lehrte sie, sich in einer Weise zu sehen und zu befragen, die ihnen wohl nur ein Gelehrter vermitteln konnte, der aus den tiefsten Schichten ihrer bürgerlichen Geschichte kam. Spross eines Arztes und einer promovierten Physikerin, Patensohn des Chemikers und Nobelpreisträgers Fritz Haber, stand Fritz Stern dieser Welt des europäischen Bürgertums zeitlebens nahe – Haber und Einstein widmete er eindringliche Studien. Und doch war er zugleich durch das eigene Schicksal, durch den historischen Bruch von „Drittem Reich“ und Emigration von seinem Herkunftsland getrennt.
Zwischen Amerika, in dem er seine wissenschaftliche Laufbahn absolvierte – über ein halbes Jahrhundert war er nach seinem Studium an der Columbia-University in New York dort Professor – und Deutschland, in das er seit den fünfziger Jahren immer wieder reiste, entfaltete sich sein Forschen und Lehren. Schwerpunkt war und blieb die Kritik, die Entwirrung und Aufhellung jener Geschichtsspanne, die die Deutschen in die Katastrophe trieb und sie zum Urheber eines beispiellosen Zivilisationsbruchs werden ließ. Aber diese Arbeit an den Problemen der deutschen Geschichte erwuchs aus dem Kontakt mit deutschen Kollegen und aus Kontroversen, intensiviert durch enge Freundschaften, vor allem mit dem Soziologen Ralf Dahrendorf und der „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff.
So wurde Fritz Stern ein teilnehmender Beobachter und beobachtender Teilnehmer des intellektuellen und mentalen Wandels der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren. Seine Dissertation war selbst ein nicht unwichtiger Beitrag zur diesem Wandel. Sie hieß „Kulturpessismismus und politische Gefahr“, befasste sich mit den geistigen Vorläufern der nationalsozialistischen Entgleisung des deutschen Denkens und machte, als sie 1963 erschien, in der akademischen Bundesrepublik Furore. Vielleicht gibt der Titel eines Vortrags, den Stern 1971 hielt, das Leitwort für die Orientierung seines Denkens: Er hieß „Um eine neue deutsche Vergangenheit“ und proklamierte eine Erneuerung des deutschen historischen Denkens – es war der erste Text, den er wieder auf Deutsch schrieb.
Seit dieser Zeit war Fritz Stern regelmäßiger Gast auf den deutschen Podien. Seine Bücher erreichten sichere Auflagen. Das galt für seine Memoiren „Fünf Deutschland und ein Leben“ (2007) ebenso wie für sein Hauptwerk „Gold und Eisen“, der voluminösen Nachzeichnung einer speziellen deutsch-jüdischen Beziehung, nämlich der von Bismarck zu seinem jüdischen Bankier Gerson Bleichröder. Vor allem aber waren es seine zahlreichen Vorträge und Essays, mit denen er auf die interessierte deutsche Öffentlichkeit einwirkte. Vielleicht war es vor allem diese Kunst der historischen Porträts und der intellektuellen Kontur, auf die sich sein Ruf stützte. Souverän in der Verteilung von Hell und Dunkel, überzeugend im Urteil, unprätentiös in der Darstellung, verbreiteten sie einen bezwingenden Ton humanistischer Geistigkeit und unbeirrbarer Liberalität.
Premierministerin Thatcher ließ sich nach der Wende von Fritz Stern beraten
Dieses Auftreten des Historikers Fritz Stern hat ihn auch zu einer öffentlichen Instanz gemacht. Ale erster ausländischer Staatsbürger hielt 1987 im Bundestag die Festrede zum 17. Juni, nicht ohne die Verfechter damals gängiger Widerstands-Lesarten vor den Kopf zu stoßen – er hatte den Aufstand vor allem als Freiheitsbewegung gedeutet. Stern gehörte zu jenem illustren Historiker-Kreis, von dem sich die britische Premierministerin Margaret Thatcher nach der Wiedervereinigung beraten ließ; für den damit möglich gewordenen Weg Deutschlands fand er die schöne Formel von der „zweiten Chance“. 1993 machte ihn der neue amerikanische Botschafter Richard Holbrooke zu seinem Berater.
Fritz Stern war in alledem immer ein Ermutiger. Er hat nie einen Zweifel an der Tiefe des deutschen Zivilisationsbruchs gelassen, mit dem der Nationalsozialismus dem vergangenen Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt hat. Aber er zitierte immer wieder das Wort von Raymond Aron, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Deutschen hätte werden können. Und seine Studien zu Einstein, Max Planck und Rathenau, den Leuchttürmen dieser verspielten Zukunft, lassen erkennen, dass dieser Zeit seine besondere Zuneigung gehörte.
Sein knarrendes Deutsch verriet seine amerikanische Identität
Aber Fritz Stern wusste auch, dass er – wie er in seiner Rede zum 17. Juni 1987 sagte – „aus einem Deutschland kam, das nicht mehr existierte und nie wieder existieren wird“. Das war richtig und sagte vieles über die traditionsarme Situation des heutigen Deutschlands aus. Aber es stimmte doch nicht ganz. Denn dieser kleine Mann mit den blitzenden Augen, dessen knarrendes Deutsch seine amerikanische Identität durchscheinen ließ, stand für ein letztes Nachwehen dieser Epoche, aufbewahrt im Leben und der Arbeit eines Historikers. Mit seinem Tod verlässt uns deshalb nicht nur ein bedeutender Historiker und eine Gestalt des intellektuellen Lebens. Es verschwindet auch eine ganze Epoche.
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