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Fritz Stern gehört seit Langem zum intellektuellen Leben der Republik.
© Arno Burgi/dpa

Fritz Stern wird 90: Das schöne Wort von der "zweiten Chance"

Er musste vor den Nazis fliehen und blieb Deutschland doch zeitlebens verbunden: Der große Historiker Fritz Stern feiert 90. Geburtstag. Er ist aus der hiesigen Debatte nicht mehr wegzudenken.

Ein amerikanischer Historiker, der zu einer geistigen Instanz für die Deutschen geworden ist – ein erstaunliches, bewundernswertes Phänomen. Fritz Stern gehört seit Langem zum intellektuellen Leben der Republik. Er ist zu Hause auf ihren Podien, seine Bücher feiern Erfolge, er wurde vielfach geehrt: mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wie mit der Mitgliedschaft im deutschen Olymp, dem Orden Pour le mérite.

Aber sein Wirken gilt ja auch der Entwirrung und Aufhellung einer der dunkelsten Seiten der deutschen Existenz: der Wege und Irrwege ihrer neueren Geschichte. Bei Fritz Stern ist dies mit den Erfahrungen der eigenen Biografie unterfüttert, die diesen Seiten ihren Tribut zollen musste.

Was schon deutlich macht, dass Fritz Sterns Rolle in Deutschland sich nicht von selbst versteht. Dieser Spross der deutsch-jüdischen Bildungsschicht, geboren in Breslau als Sohn einer Arztfamilie, aus der schon viele wissenschaftliche Kapazitäten hervorgegangen waren, musste die Erfahrungen der Diskriminierung in den Anfangsjahren des „Dritten Reichs“ erleiden und die Emigration erleben, um zu dem zu werden, was er dann wurde.

Das Schlüsselerlebnis dafür bleibt bewegend: Es war die erste Gedenkveranstaltung für die Opfer des 20. Juli 1954 in der Bundesrepublik im Hof der Bendlerstraße, an der er als junger FU-Gast-Dozent teilnahm. Er blickt in die durch ihr Schicksal „hart und demütig gewordenen“ Gesichter der Hinterbliebenen – so erinnerte er sich später –, und „das Bild, das ich von Deutschland hatte“, begann sich zu verändern. Von da an hat ihn die deutsche Geschichte nicht mehr losgelassen.

Aus der deutschen Debatte nicht mehr wegzudenken

In seiner Dissertation „Kulturpessimismus als politische Gefahr“, 1963 auf Deutsch erschienen, analysierte Stern das völkisch-irrationale Denken, das dem Nationalsozialismus Vorschub leistete. Damit stieß er ein Tor zum Verständnis der deutschen Fehlentwicklung auf, das bis dahin zumindest halb geschlossen war. Seither ist er aus der deutschen Debatte nicht mehr wegzudenken.

Doch mehr noch als mit seinem Hauptwerk „Gold und Eisen“, der Nachzeichnung von Bismarcks Verhältnis zu seinem jüdischen Bankier Gerson Bleichröder, das tief in das komplexe Geflecht des deutsch-jüdischen Verhältnisses vordrang, hat Stern mit einer Fülle von Essays und Aufsätzen Einfluss genommen.

Locker in der Darstellung, prägnant in seinen Positionen

Fritz Stern ist ein Meister in der Nachzeichnung von Figuren, Situationen und Stimmungen, die allemal „Wegweiser zum Ziel des Verstehens“ sind. Mit diesen Worten hat er seinen Umgang mit Geschichte und Gegenwart in seinem jüngsten Buch umrissen – „Zu Hause in der Ferne“ (C.H. Beck, München) –, das ein Beispiel für seine Kunst ist, klug und eingängig zu schreiben. Locker in der Darstellung, prägnant in seinen Positionen, souverän in der Abwägung, gibt er ein Beispiel für vernünftiges Urteilen und für Einsichten, die den Blick öffnen. Und bezwingt wieder durch seinen Ton, den Sternschen Ton humanistischer Geistigkeit und unbeirrbarer Liberalität.

Mit solcher Haltung, über die Jahrzehnte unermüdlich fortgeführt, hat sich Fritz Stern um das öffentliche Bewusstsein in seiner alten Heimat verdient gemacht. Er ließ nie einen Zweifel an der Tiefe des Zivilisationsbruchs, den der Nationalsozialismus verursacht hat. Wie wenige andere hat er den Deutschen auch die Möglichkeiten vor Augen geführt, die sie verspielt haben – deshalb sein Interesse an Einstein, dem Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber und dem Liberalen Walter Rathenau, mit denen das Land auf dem Weg zu weltweiter Bedeutung war – bis sie ins Exil mussten oder ermordet wurden.

In zwei Welt und zwei Sprachen zu Hause

Aber er hob auch immer den radikalen Wandel hervor, den die Bundesrepublik vollzogen hat. Wenn er dabei von der Suche nach einer neuen Vergangenheit spricht – der Vortrag, der diesen paradoxen Begriff im Titel trägt, war übrigens der erste, den er auf Deutsch schrieb –, liegt ihm nichts ferner, als dem Revisionismus das Wort zu reden. Es geht ihm vielmehr um ein neues freieres, offenes Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte. Die Umrisse einer solchen veränderten, entkrampften Sicht auf Gegenwart und Vergangenheit treten in seinen Essays und Vorträgen zutage. Mit dem schönen Wort von der „zweiten Chance“, welche die Vereinigung den Deutschen geschenkt habe, hat er diesen Gedanken im Nachwende-Deutschland verankert.

Er habe das Glück, in zwei Welten und zwei Sprachen zu Hause zu sein, hat Fritz Stern bekannt. Dazu gehört die Gabe, dass den seit Jahr und Tag unermüdlich zwischen Amerika und Deutschland Pendelnden kaum etwas „aus der Unruhe bringen kann“ – wie er einmal von seinem verstorbenen Freund Ralf Dahrendorf sagte. An diesem Dienstag vollendet Fritz Stern sein 90. Lebensjahr.

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