Fritz Stern: "Fünf Deutschland und ein Leben"
Das zweite Leben: Die Erinnerungen des Historikers Fritz Stern.
In den sechziger Jahren kam der Kulturphilosoph Arnold Gehlen einmal auf „einen Fritz Stern“ zu sprechen. Der unverkennbar abfällige Unterton sollte ein Buch erledigen, das mit der Tradition deutscher Kulturkritik ins Gericht geht. Es war jenes „Kulturpessimismus als politische Gefahr“, mit dem Stern seinen Ruf begründete. Inzwischen ist Gehlen nur noch ein Schattenriss in der Geistesgeschichte der Bundesrepublik, Stern längst nicht mehr ein Fritz Stern, sondern der Fritz Stern, so bekannt wie es ein Historiker nur sein kann. Der deutsche Jude aus Breslau, der Amerikaner wurde, der Friedenspreisträger und das Mitglied des Ordens pour le Mérite ist mit seinen Büchern und Aufsätzen eine Instanz im intellektuellen und politischen Deutschland geworden.
Die „fünf Deutschland“, die seinen Erinnerungen den Titel geben, umschreiben die Zeitspanne von der Weimarer Republik bis zum vereinten Deutschland, die der im vergangenen Jahr achtzig Jahre alt gewordene Stern durchlebt hat. Aber die heimliche Pointe besteht darin, dass das Deutschland, das er nicht mehr kennengelernt hat – das Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg –, ihn vielleicht am tiefsten geprägt hat. Nicht nur, weil er es, wie er bekennt, „am besten zu verstehen glaubt“, denn es war der bevorzugte Gegenstand seines Interesses als Historiker. Es ist die Welt, die ihn als Person geformt hat und den Hintergrund seiner Existenz bildete: die bürgerliche Welt mit ihre Kultur, ihrem Leistungswillen und ihrem humanitären Ethos.
Als Spross einer deutsch-jüdischen Ärzte-Dynastie ist Stern in ihre späte, reife Phase hineingeboren worden, und so wie er Eltern, Verwandte und Freunde beschreibt, erfüllten sie diese Lebensform beispielhaft und anrührend. Selbstverständlich assimiliert, gab ihnen der Umgang mit Literatur und Wissenschaft „einen Ernst und eine Sicherheit“, von denen sie lebenslang zehrten. Überdies war dieses bürgerliche Jahrhundert in der Generation seiner Eltern schon von der Offenheit des modernen Lebens berührt. Es markiert, so Stern, „einen sehr wichtigen und besonderen Moment in der deutschen Kultur“. Das Urteil ist umso bedeutsamer, als Stern, der Erforscher der dunklen Seiten dieser deutschen Heroen-Epoche, keineswegs blind ist gegenüber ihren Gefahren. Am Ende des Buches spricht er denn auch vom „vergifteten goldene Zeitalter“ der Deutschen.
Die Verschränkung von privater und großer Geschichte, mit der Stern seine Herkunft nachzeichnet, bildet das Muster seiner Autobiografie. Zumindest als Untertitel könnte sie auch – wie Heinrich Manns Lebensbericht – „Ein Zeitalter wird besichtigt“ heißen. Der permanente Seitenblick auf die große Geschichte hat bei einem hochinteressierten, liberalen Kopf wie ihm immer seinen Reiz, auch dann, wenn er dem Professor Stern immer wieder zu einem kleinen, freihändig gehaltenen Privatissimum zum Thema „Deutsche und europäische Zeitgeschichte“ gerät. Allerdings beschert diese Erzählperspektive dem Buch auch beträchtliche Längen – zumal dort, wo ihm deutlich anzumerken ist, dass es zuerst für ein mit Deutschland wenig vertrautes amerikanisches Publikum geschrieben worden ist.
Dass Stern der herausragende Vermittler zwischen Deutschen und Amerikanern geworden ist, ergab sich übrigens keineswegs unmittelbar aus Herkunft und Schicksal. Vielmehr ging dem die Assimilierung an die neue Heimat voraus. Der junge Historiker fühlte sich „ganz und gar als Amerikaner“, sprach von „unseren“ Vorfahren, wenn er vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg handelte und hätte es unvorstellbar gefunden, ein deutsches Auto zu kaufen. Erst nach und nach habe er ein „ein zweites deutsches Leben“ erworben, parallel zu seiner amerikanischen Existenz.
Der Anstoß dafür ereignete sich in Berlin: die Teilnahme des jungen FU-Gastprofessors an der Gedenkveranstaltung für die Opfer des 20. Juli im Jahre 1954. Für Stern war diese Stunde im Bendlerblock – mit der das Datum überhaupt erst seinen Platz in der Bundesrepublik fand – „eine bewegende, ja, sogar befreiende Erfahrung“. Doch entscheidend wurde der Kontakt mit deutschen Kollegen und deutschen Kontroversen. Nicht zufällig war es der Wandel im intellektuellen Klima der sechziger Jahre, der Stern in der Bundesrepublik Fuß fassen ließ. Im Streit um Fritz Fischers Revision der Kriegsschuldthese des Ersten Weltkriegs hatte er einen ersten großen Auftritt – einschließlich eines Abdrucks im „Spiegel“. Dazu kamen enge Freundschaften, vor allem mit Ralf Dahrendorf und Marion Gräfin Dönhoff. Vielleicht war Sterns Weg am besten an einem Vortrag abzulesen, den er 1971 hielt. Er trug den Titel „Um eine neue deutsche Vergangenheit“ und war der erste Text, den er wieder auf Deutsch schrieb.
Für deutsche Leser, die Stern als ständigen Gast auf Podien und Kathedern erleben, besteht die fast überraschendste Entdeckung dieser Erinnerungen darin, dass er auch ein amerikanisches Leben hat. Und was für eins: Er ist nicht nur Universitätslehrer, sondern auch ein Aktivist, der engagiert am Leben der amerikanischen Ziviligesellschaft teilnimmt. Schon der Neu-Amerikaner meldete sich mit Briefen an Politiker zu Wort. Der Historiker beteiligte sich immer wieder an Unterschriftenaktionen und Zeitungsanzeigen, mit Vorliebe in der New York Times: im Falle des Vietnam-Kriegs ebenso wie gegen die Rebellion der Studenten an seiner Universität, der Columbia-Universität, wie gegen Georg H.W. Bush im Präsidentschaftswahlkampf 1988, als dessen Vorgänger Reagan die Liberalen diffamierte. Den Neokonservativen gilt ohnedies sein kämpferischer Zorn.
Sterns Erinnerungen sind auch der Bericht über ein erfolgreiches Leben als Historiker und Intellektueller. „Konferenzen noch und noch“, Vorträge und Forschungsaufenthalte überall, auch eine eineinhalb Jahre lange Weltreise in Sachen Europa und ehemalige Kolonien – die überzeugende Einlösung der früh erkannten Prädisposition, „in mehreren Welten zu leben und ein engagierter Bürger zu sein“. Daraus entstand ein staunenswertes Netzwerk von Freundschaften und Beziehungen. Im Zentrum blieb die Deutung der deutschen Geschichte und ihrer Katastrophe. Stern hat im Lauf seines Lebens in dieses abgründige Terrain wichtige Denk- und Verständnisschneisen geschlagen.
Umso auffallender ist es, dass es da doch einen feinen Vorbehalt gegenüber den Deutschen gibt, der nicht vergeht. Er meldet sich etwa im Urteil über Weizsäckers 1985er-Rede, wonach sich „die meisten Deutschen“ ihren Wahrheiten „nicht stellen wollten“, oder in dem Argwohn, hinter Kohls Verhandlungen im Kaukasus 1989 stehe ein „deutsch-russischer Bilateralismus“. Überhaupt stößt man gelegentlich auf Ungenauigkeiten, die vielleicht doch nicht nur einem unsicheren Lektorat anzuhängen sind. Verblüfft registriert man Sterns Eindruck von „gemeinsamen Feiern“ von Ost und West im Lutherjahr 1983 – wo man doch eher gegeneinander feierte – und findet Willy Brandts Reise nach Erfurt 1970 als eine Art Thüringen-Ausflug wahrgenommen, bei dem die Bürger von Erfurt ihn „wie einen Helden“ empfingen. Offenbar verbindet eine transatlantische Existenz nicht nur, sondern trennt auch.
Sterns Erinnerungen sind ein bedeutendes Buch, reich an Geschichten und Geschichte, klugen Einsichten und bemerkenswerten Erfahrungen. Und obwohl im Duktus des Historikers geschrieben, fühlt sich der Leser zu den tieferen Schichten von Zeit und Schicksal geführt. Es ist am Schluss des Buches, dass Stern von seiner Ehrenpromotion in der alten Aula der Breslauer Universität berichtet: Er sieht „vor seinem geistigen Auge“ seine Eltern, spürt den „Schmerz ihres Lebens stärker als ihre Freuden“ und erlebt diesen festlichen Akt der Versöhnung mit dem Gefühl, „dass etwas in Ordnung gekommen war“. Dass die Hoffnung nicht vergeblich ist, etwas schrecklich Zerstörtes könne in Ordnung kommen, sei in Ordnung gekommen: Das ganze Buch und das Leben, von dem es erzählt, sind ein Zeugnis dafür.
Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. Aus dem Englischen von Friedrich Griese. C.H. Beck Verlag, München 2007. 675 Seiten, 29,90
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