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Die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch aus Weißrussland.
© Christian Charisius/dpa

Swetlana Alexijewitsch zum 70.: Auf der Suche nach der Wahrheit

Ob Tschernobyl oder Frauen in der Roten Armee, Swetlana Alexijewitsch setzt sich unbeirrt mit den Tabus ihrer Heimat auseinander: Zum 70. Geburtstag der Literaturnobelpreiträgerin.

„Was bedeutet Liebe für Sie?“: Mit dieser universellen Frage im Gepäck haben sich Swetlana Alexijewitsch und der schwedische Dokumentarfilmer Staffan Julén auf eine Reise quer durch Russland begeben. In ihrem aktuellen Film „Lyubov - kärlek på ryska“ („Ljubow - Liebe auf Russisch“) sieht man die Literaturnobelpreisträgerin von 2015 im vertrauten Küchengespräch mit einem Freund, aber ebenso Menschen in besonders hässlichen Hochhaus-Ensembles und Bäuerinnen in Datschen im Morgennebel. An Liebe herrsche in der ehemaligen Sowjetunion ein eklatanter Mangel, stellt Swetlana Alexijewitsch im Film fest. Zugleich ist es ihre unverbrüchliche Sympathie zu den sogenannten einfachen Menschen und deren Schicksalen im verheerenden 20. Jahrhundert, die sie zu ihren großen Werken der Dokumentarprosa angeregt hat, dem für sie typischen „Roman in Stimmen“. Dafür erhielt sie unter anderem 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, ihre Bücher liegen in über 30 Sprachen vor.

Ob es ihr erfolgreichstes Werk „Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft“ ist, ob „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, ihr erstes Buch von 1983 über das Schicksal der Frauen, die im Zweiten Weltkrieg für die Rote Armee gekämpft hatten und dafür später verachtet wurden, oder zuletzt 2013 ihre post-sowjetische Bestandsaufnahme „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“: Unbeirrt setzt sich die Güte und Warmherzigkeit ausstrahlende Frau mit den politischen Tabus ihrer Heimat auseinander und stand deshalb schon mehrfach wegen „Verleumdung“ oder „Besudelung der Soldatenehre“ vor Gericht. Trotz des Literaturnobelpreises, der mit ihrer Auszeichnung erstmals nach Weißrussland ging und entsprechend Glanz auf das abgeschottete Land abstrahlte, sind Swetlana Alexijewitsch' Bücher dort nach wie vor nicht offiziell erhältlich; Europas hartnäckigster Diktator Lukaschenka tut sich schwer mit seiner berühmten Bürgerin. Das beflügelt ihre Popularität eher noch: Mittlerweile unterhält sie in Minsk einen literarischen Salon, in den sie Schriftstellerkollegen wie Wladimir Sorokin oder Viktor Martinowitsch („Mova“) einlädt.

Utopie nach russischer Art

„Vierzig Jahre lang habe ich an einer Geschichte der Utopie geschrieben“, fasste die Autorin ihre Arbeit 2017, hundert Jahre nach der Oktoberrevolution, beim Literaturfestival Eventi Letterari Monte Verità in Ascona zusammen: „Ich wollte eine Enzyklopädie unseres Lebens verfassen, damit die Menschen sich ein Bild machen können. Ich wollte zeigen, wie die Utopie nach russischer Art ausgefallen war. Warum die Zeiten so blutig waren, warum die Menschen so leicht gestorben sind. Diese Utopie war ja nicht nur eine Idee, sie war unser Leben. Und angesichts des knallharten Kapitalismus und der Diktatur erinnern sich die Menschen heute sogar gerne an die sowjetischen Zeiten.“ Dabei ist es keineswegs so, dass der Ernst ihrer Themen Swetlana Alexijewitsch' Schlagfertigkeit lähmen würde. Angriffslustig parierte sie am Lago Maggiore die Frage des Moderators, wie sie die Zeitzeugen für ihre dokumentarische Prosa auswähle: Wie habe er denn seine Frau ausgewählt, sei das Strategie oder Zufall gewesen?

Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 im westukrainischen Iwano-Frankiwsk als Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen geboren. Sie absolvierte ein Journalistikstudium in Minsk, arbeitete aber auch als Lehrerin. 2008 kam sie durch das Writers-in-Exile-Programm des PEN für zwei Jahre nach Berlin. Doch um zu schreiben, braucht sie den russisch-belarussischen Sprachraum, wie sie einmal bekannte. An diesem Donnerstag feiert sie ihren siebzigsten Geburtstag - in Minsk oder in der 30 Kilometer entfernt liegenden Datsche.

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