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Blick auf Monte Isola im Iseosee .
© Consorzio FC

Champagner in Italien: Wo der Schaumwein zu Hause ist: Franciacorta

Noch wenige Tage bis Silvester. Jetzt ist die Zeit für eine Reise durch Europas prickelndste Regionen. Teil 3: Franciacorta, der Herausforderer.

Vittorio Moretti setzt das Glas Schaumwein ab. Ein Extra Brut aus seinem Weingut Bellavista, goldgelbe Färbung, tanzende Blasen. „Franciacorta“ steht auf dem Etikett. Ginge es nach Moretti, wäre das Label so begehrt wie Gucci und Prada zusammen. Den noch ausbleibenden Erfolg kann sich der Unternehmer nur mit zwei Hürden erklären. Ostacoli, sagt er, „Hindernisse“ und listet eben jene mit der Begeisterung eines Schädlingsbekämpfers auf. „Erstens Prosecco, zweitens Champagner.“

Prosecco überschwemmt den Markt mit preiswerter Prickelware, Champagner blockiert ihn mit seinem Gewinnerimage: Erfolg, Schönheit und mindestens zwei Ferraris in der Garage. Kaum jemand kennt Franciacorta, diese Region zwischen Mailand und den Alpen, dort, wo die Po-Ebene endet und die Berge in den Iseosee abzurutschen scheinen.

Moretti will das ändern. Er ist ein Patriarch mit edlem grauen Jackett und seidenem Halstuch. 77 Jahre alt, ehemaliger Bauunternehmer und Präsident des Konsortiums Franciacorta, in dem sich die 110 Winzer der Region zusammengeschlossen haben, um ihre Produkte unter einem Dach zu vermarkten.

Lehm, Gips, Kalk sind die Geheimzutaten aus dem Boden

Als der Präsident beim Einschenken ein Glas umstößt und dieses zerbricht, bewahrt er Ruhe. „Lascia, lascia“, sagt er zu seiner Assistentin, die nach einem Aufwischtuch sucht. Lassen Sie es gut sein! Was ist schon ein kaputtes Glas, wenn man pro Jahr 1,5 Millionen Flaschen produziert. Er nimmt einen Schluck, ernstes Gesicht, die Zunge schnellt leicht vor, er nickt. Buono.

Gut gereifte Flaschen warten in den Gewölben von Berlucci darauf, zur Verkostung an die Oberfläche geholt zu werden.
Gut gereifte Flaschen warten in den Gewölben von Berlucci darauf, zur Verkostung an die Oberfläche geholt zu werden.
© Fabio Cattabiani

Lehm, Gips, Kalk. Schmeckt man natürlich als Laie nicht, aber das sind die Geheimzutaten aus dem Boden. Die Franciacorta ist Moränengebiet. Als die Gletscher vor Millionen Jahren abflossen, spülten sie Gestein in den Boden. Erst 1995 erhielt die Region ihren DOCG-Status für eine kontrollierte und garantierte Herkunftsbezeichnung. Davor war Franciacorta ein teures Hobby (für die Weinbauern) und ein billiges Vergnügen (für die Konsumenten).

Aus Chardonnay- und Pinot-Noir-Trauben wird der Grundwein hergestellt. Diesem werden für die zweite Gärung Hefe und Zucker zugesetzt. Bei der folgenden mindestens 18 Monate dauernden Reife, verwandelt die Hefe den Zucker vollständig in Alkohol und Kohlendioxid, das am Ende die entscheidenden Blubberblasen bildet. Das ist grundsätzlich dieselbe Methode, nach der auch der französische Konkurrent hergestellt wird.

Jeden Tag werden die Flaschen mit der Hand umgedreht

Vor 40 Jahren hat Moretti Bellavista erworben, ein Traum, den er sich erfüllte. Er, ein Sohn der Region, breitet auf der Terrasse die Arme aus. „Schöne Aussicht“ heißt sein Gut, hier ist sie. Zuerst muss man sich allerdings die riesige orangefarbene Schaukel auf dem Vorplatz wegdenken, ein Kunstwerk aus der Sammlung des Industriellen. Dahinter erstreckt sich kilometerweit wellenförmiges Land, Zypressenhaine stehen stramm wie Zinnsoldaten, Rebstöcke sind in langen Reihen angepflanzt, zwischendrin eckige Kirchtürme, das Wasser des Iseosees blitzt auf, und am Horizont versperren 2000 Meter hohe Gipfel jeglichen Weiterblick. Kulturlandschaft, Bilderbuchpanorama.

Zappenduster ist es unten im Weinkeller. Jeden Tag können Besucher von Bellavista einen Angestellten dabei beobachten, wie er in den Gewölben die verstaubten Flaschen mit der Hand umdreht, damit die Hefe Stück für Stück in den Hals der Flasche rutscht, wo sie am Ende der Reifung entfernt werden kann. Abschließend wird mittels Zuckerzugabe die Süße eingestellt. Korken rein. Draht drum, fertig.

Der Mann strahlt beim Flaschendrehen. Er muss gute Sehnen haben, wenn er das jahrelang problemlos schafft.

Bereits 1570 war die heilende Wirkung des Rebsaftes bekannt

Die Weinlese in der Franciacorta beginnt im August.
Die Weinlese in der Franciacorta beginnt im August.
© Fabio Cattabiani

Dass man in der Franciacorta mit den Franzosen nicht gleichziehen kann, liegt schon an den geografischen Gegebenheiten. Die Anbaufläche der gesamten Region ist 2800 Hektar groß, etwa doppelt so viel wie Kreuzberg misst und nicht einmal zehn Prozent des Anbaugebiets in der Champagne. Von den Anfängen kann Riccardo Ricci Curbastro berichten. Nur ein paar Kilometer und scharfe Kurven entfernt lebt seine Familie, natürlich auch „seit Jahrhunderten“, so erzählt es der 55-jährige Winzer. Man habe die Besetzung Napoleons genauso überstanden wie die der Deutschen. Ersterer ließ die Region kartografieren, Letztere nahmen das Familiengut bis zum Kriegsende 1945 in Beschlag – wo heute die prämierten Weine hergestellt werden.

Zwei Weimaraner umkreisen Ricci Curbastro, die Köpfe zum Hausherrn gewandt, der in seiner beigefarbenen Faltenhose und dem hellblauen Hemd aber gar nicht daran denkt, den Hunden Aufmerksamkeit zu schenken. Er ist gerade in der Vergangenheit, im Jahr 1570, um exakt zu sein. Damals publizierte Girolamo Conforti, ein Arzt aus dem nahen Brescia, einen Text, die „Abhandlung zum schäumenden Wein“, in dem er den ortstypischen Rebsaft „bissig“ nannte, weil er „die Zunge nicht weichmache wie süße Weine“. Er attestierte ihm eine heilende Wirkung, womit er bestimmt meinte, dass man sich nach dem Genuss einer Flasche ziemlich gut fühlt.

Den Rosé trinkt man zu Salami

Conforti gab dem Weinanbau entscheidende Impulse. Die Winzer in den Klöstern fügten nach seinen Ideen Gerstenkörner hinzu, um die Gärung zu verstärken. Lange zogen nur die kleinen Klosterhöfe der Franciacorta Wein, die steuerbefreiten Höfe, die in mittelalterlichen Urkunden „Franzia Curta“ hießen und der Region ihren Namen gaben. Wenn es bereits seit Jahrhunderten eine Weinkultur gab, wieso hat man erst vor 20 Jahren den besonderen Status erhalten? Auch da weiß Ricci Curbastro eine Antwort. In der Franciacorta baute man Getreide, Obst, Gemüse an, die Gegend war Kornkammer für Brescia, Wein ein Nebenprodukt. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten Familien ihr Glück in der Industrie. Bauwirtschaft, Wasserbau, Bootsfertigung. Erst als die Unternehmen Gewinne abwarfen, wandten sich die Familien dem Wein zu – zuerst als Hobby, inzwischen als leidenschaftliches Geschäft.

Curbastro stellt nun vier Flaschen vor sich hin. Einen trockenen Brut, einen Extra Brut, einen Rosé-Schaumwein und einen Saten – eine eigene Erfindung der Region, die so samtweich am Gaumen perlen soll wie Seide, la sete. Vier Flaschen, vier Möglichkeiten, das Essen dazu zu kombinieren. Den Rosé trinke man zu Salami und Prosciutto, sagt Corbustro, den Brut mit kleinen Vorspeisen zum Aperitiv, den Saten zu Fisch und Geflügel, und der Extra Brut passe gut zu Austern oder Shrimps. Es gäbe also überhaupt keine Notwendigkeit, bei einem Mahl auf einen anderen Wein auszuweichen.

In der Mailänder Scala wird nur Franciacorta serviert

Für seine Besucher hat der Winzer ein kleines Museum errichtet. In zwei ehemaligen Scheunen stehen alte landwirtschaftliche Geräte und wuchtige Fässer aus Maulbeerbäumen und Kastanien. Für Kinder bietet er auf dem Gut Proben an: Statt Wein nippen sie an verschiedenen Traubensäften. „Das schult den Geschmack“, sagt Curbastro.

In der Mailänder Scala servieren die Kellner nur noch Franciacorta. Japaner und Skandinavier schätzen den Schaumwein als Champagner-Alternative, aus diesen Ländern kommen auch viele der Touristen. Es hat dem Ruf der Region genützt, dass im vergangenen Jahr der Künstler Christo eine seiner monumentalen Installationen am Iseosee realisierte. Er ließ einen künstlichen Steg zu einer Insel im See bauen und holte damit Millionen Gäste in diese vergessene Ecke Italiens. Jeder Zug, jedes Auto, das Besucher brachte, fuhr durch die Franciacorta und sah die prallen Trauben: der Stoff, aus dem der Schaumtraum ist.

Europas prickelndste Regionen, Teil 1: Champagne lesen Sie hier.

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