zum Hauptinhalt
Berliner Original: Sven Marquardt
© Ole Westermann

Fotograf Sven Marquardt: „Wir waren überheblich und rotzig“

In der DDR durfte Sven Marquardt Berlin-Mitte nicht betreten - wegen seines Looks. Warum er Fönfrisur trug, Model war und nun für das Modelabel Boss fotografiert. Ein Gespräch mit dem Künstler und Berghain-Türsteher.

Herr Marquardt, Sie waren gerade zum ersten Mal in New York. Welches Bild bleibt bei Ihnen haften?

Wie wir vom Flughafen JFK in die Stadt reinfahren. Wir kommen an eine Brücke mit monumentalen Pfeilern, links liegt ein riesiger Friedhof, tausend Kreuze auf den Hügeln, und auf der anderen Seite des East Rivers sehe ich die Skyline von Manhattan im Spätsommerlicht. Da saß ich übermüdet in der Taxe und dachte, kneif mich mal jemand.

Manche behaupten, Berlin sei das neue New York.

Auf dem Rückflug bin ich vor der Landung eingenickt. Als ich aufwachte, schaute ich raus und dachte, jemand hätte die Maschine nach Kassel entführt. Berlin sah plötzlich so winzig aus. Und dann das kleine Förderband in Tegel, wo die Taschen rauskommen.

Internationaler ist Berlin allerdings geworden.

Finde ich auch. In Williamsburg, diesem hippen Teil in Brooklyn, hatte ich das Gefühl, ich laufe durch die Berghain-Schlange ...

... dem legendären Club, wo Sie Türsteher sind ...

... die trugen alle das Gleiche wie in Berlin. Vollbärte, weggeschorene Seiten, Tätowierungen, Oversize-Shirts mit Ausschnitt bis zur Hüfte.

War das ein DDR-Traum, in die USA zu reisen?

In den 80er Jahren war das ein Thema in meinen Gesprächen mit Robert ...

... Robert Paris, Sohn der Fotografin Helga Paris und ein längjähriger Freund von Ihnen ...

... wir hatten diese Zeilen von Nina Hagen im Kopf. „New York City ist die heißeste Stadt, wenn man einen Boyfriend und ein Hotelzimmer hat.“ Ich möchte da nicht leben, aber ich glaube, weil die Stadt so hart ist, fühlen sich Menschen herausgefordert, in ihr bestehen zu wollen. Ich bin ja auch von Sachen angezeckt, die nicht nur gut sind.

Sprechen Sie von Ihrer Zeit als DDR-Punk?

Es gibt ein Doppelporträt von Robert und mir 1988 in Ahrenshoop, ich halte auf dem Foto meinen Schal vors Gesicht, bin vom Alkohol aufgedunsen, habe Zigarettenbrandnarben auf den Händen, meine Augen sind mit Kajalstift dunkel bemalt. Ich sehe so unglücklich darauf aus. Das kann ich mir nicht mehr angucken.

Sie schreiben in Ihrer kürzlich erschienenen Autobiografie "Die Nacht ist Leben": „Wenn ich Bilder von damals sehe, sehe ich immer so trotzig aus.“

Wir waren jugendlich, überheblich, rotzig. Deshalb ist uns nichts Schlimmeres passiert.

Wie meinen Sie das?

Es gibt in meiner Stasi-Akte einen Teil, wo ein Offizier meine Person einschätzte. Das war nicht unklug, nur dümmlich geschrieben: „Sven Marquardt verfolgt trotz des Punk-Aussehens keinen politischen Aspekt. Er macht in seiner Wohnung Bilder von homosexuell anmutenden Jünglingen.“

Für den Staat waren Sie jedenfalls nicht gefährlich. Haben Sie herausgefunden, wer Sie bespitzelt hat?

Nein, das wollte ich nicht wissen. Ich habe nur den Teil eingesehen, der mit meinem Beruf zu tun hat, nichts über meine Familie.

Erste Erfahrungen mit der Kamera haben Sie vor ihr gemacht – mit 16 Jahren als Model.

In meinem Buch habe ich geschrieben, ich wollte zu Dior und landete bei Hertie. Der Vergleich bezieht sich darauf, dass ich nicht beim Modeinstitut angenommen wurde, weil ich zu klein war. Ich durfte nur auf Kaufhaus-Schauen laufen. VEB Jugendmode bei Herrn Seidenglanz, so hieß der tatsächlich. Mal im Centrum Warenhaus am Alex, mal im Palast der Republik, mal auf dem Land.

Passte das zu Ihrem Lebensstil als schwuler Punk?

Punk wurde ich mit 18, als ich die Schnauze voll hatte von klebrigem Rotkäppchensekt. Als Model trug ich noch Fönwelle und lange Haare. Es passte zu mir, Geld nebenbei zu verdienen, um in Bars abzuhängen und Bekanntschaften zu machen. Es war schnell verdient, 75 Ost-Mark für einen Auftritt, ein gutes Zubrot zu 100 Mark Lehrlingslohn.

Nach der Schule hatten Sie eine Lehre zum Fotografen und Kamera-Assistenten angefangen.

Es gab eine Zeit, da kippte alles. Das Ende einer Beziehung, die Ablehnung meines Äußeren in der schwulen Szene, ich habe dann eine Therapie angefangen. In der habe ich den Jens getroffen, einen Jungen, den ich unbedingt fotografieren wollte. Ich habe im Grunde erst das Handwerk gelernt und darüber meine Leidenschaft entdeckt. Mit der Praktika, die mir meine Oma finanziert hat.

Jens war eine unerfüllte Liebe?

Nee, der war gar nicht mein Typ. Er sah zeitlos aus. Michael Michalsky ...

... der Berliner Modeschöpfer ...

... sagte vor ein paar Jahren, den würde er sofort für den Laufsteg buchen, als er meine Fotos von 1984 gesehen hat. Da trug Jens einen 80er-Jahre- Seitenscheitel, einen Seidenschal um den Hals, T-Shirt und Trenchcoat. Das Gesicht hatte was Feminines, mit den weichen Lippen und der Stupsnase. Während meiner Therapie habe ich Bilder von ihm gemacht, an eine Wandzeitung im Aufenthaltsraum gehängt, und etliche Leute kamen danach auf mich zu, um mir zu sagen, wie sehr die Bilder sie berührt haben. Das war der erste Anstoß.

"Ich wollte Szene sein!"

Kurz darauf lernten Sie zufällig die Fotografin Helga Paris kennen. Was hat sie Ihnen geraten?

Mach weiter. Ich guck mir deine Fotos an, hier ist jederzeit ein Platz für dich. Sie fand von Anfang an meine klaren Porträts besser als die überinszenierten Momente, in denen ich mich manchmal verliere – noch ein Kerzenständer im Hintergrund, noch ein bisschen Tüll ins Bild reinhängen.

Roger Melis wurde mit Bildern aus dem Arbeiteralltag in der DDR bekannt. Hat Sie das gereizt?

Hat mich nie fasziniert. Das war auch eine Form, die mir verschlossen war. Wenn ich mit meinem Aussehen in einen Betrieb VEB Damenmode gegangen wäre, hätte sich mir niemand geöffnet. Deshalb hat sich nach dem Mauerfall keiner für meine Bilder interessiert, weil ich keinen DDR-Alltag hatte. Diese heruntergezogenen Mundwinkel vor Schrankwänden in Plattenbauten. Ich wurde in der „Stern“-Redaktion 1990 sogar gefragt, ob der Typ auf meinen Bildern Drogenprobleme hatte ...

... das war Robert Paris, dünn, halb nackt, blass ...

... und ob er noch lebt. Ich habe die gar nicht verstanden. Bei uns gab es doch keine Drogen.

Was hat Sie an der Fotografie denn interessiert?

Nicht unbedingt die DDR, sondern ein realer Augenblick mit den Menschen, denen ich vertraute – auch wenn der inszeniert war. Das war mehr mein Lebensgefühl. Nina Hagen hören, Joy Division, The Cure, im Wiener Café an der Schönhauser sitzen. Wenn um Mitternacht die Läden dichtmachen, zu irgendjemanden nach Hause gehen, weitertrinken, quatschen und am nächsten Morgen bei Typen aufwachen, wo ich eigentlich nie sein wollte. Schwierig waren nur diese Schriftsteller, mit denen hatten wir kaum eine Schnittstelle.

Sie meinen den Kreis um Sascha Anderson.

Für die waren wir zu bunt, zu schwul. Wir konnten deren hektisches Karo-Gerauche und Ernstgeglotze auch nur schwer ertragen.

Es war ja keine einfache Zeit, auch nicht für Sie. Geld haben Sie kaum verdient …

… Fördergelder für freie Themen, monatlich 56 Mark vom Magistrat der Stadt Berlin.

Und Ihre Miete kostete 47 Mark.

Stimmt. Was ich sonst brauchte, musste meine Mutter bezahlen, oder wir haben Strasssteine auf der Straße verkauft oder Postkarten von unseren Bildern auf Märkten. Später hatte ich gelegentlich Aufträge von der Modezeitschrift „Sibylle“, da kamen dann 600 Mark rein.

Ende der 80er Jahre erhielten Sie wegen Ihres unsozialistischen Aussehens Zugangsverbot in Mitte. Mal überlegt, die Haare einfach abzuschneiden?

Hab ich Ende der 80er Jahre besoffen getan – mit einer viel zu stumpfen Haarschneidemaschine. Die Haare waren so verfilzt von dem Toupieren und Sprayen, oh Gott, das war eine Tortur.

Zur selben Zeit bekamen Sie 1988 Ihre Ausreiseerlaubnis für eine Ausstellung in Südfrankreich. Sie steigen aber schon in West-Berlin aus dem Zug.

Da hätte ich bleiben können. An der Boddinstraße habe ich eine Freundin besucht, in einer alten Fabriketage, unverputzte Wände, 170 Quadratmeter, da haben die zu fünft gewohnt. Diese ganzen Probleme, die es da gab. Wer hat das weggefressen? Wer hat zu viel gebadet? Ich saß in dem Zimmer, schaute auf den Neuköllner Hinterhof und dachte: Nee, ich will mich doch nicht streiten, warum ich zu viel Badewasser verbrauche! Das fühlte sich unfrei an.

Sie sind in den Wedding gefahren, haben von der Mauer aus nach Prenzlauer Berg gesehen und sich gesagt: Ich will gar nicht weg aus dem Osten.

Als ich rüberschaute, dachte ich: Wenn ich jetzt hierbleibe, kann ich da nicht mehr hin, kann meine Familie nicht mehr sehen, meine Katzen, meine Fotos wären weg. Über Freunde habe ich von Leuten gehört, die im Westen als Kellner gearbeitet haben – was sie im Osten nie getan hätten. So enden wollte ich nicht.

Sie wollten einfach nicht weg.

Ich habe davon geträumt, ein Arbeitsvisum wie zum Beispiel die Fotografin Sibylle Bergemann zu bekommen, die für Aufträge so reisen konnte, wie sie wollte, und weiterhin in Ost-Berlin wohnte.

Ihr Zitat: „Die Kamera war nur Mittel, meine Sehnsüchte aufzusaugen, meine unerfüllten Wünsche.“ Plötzlich kam die Wende – und Sie hörten auf zu fotografieren. Hat der Westen Sie überfordert?

Nein, es hat mir gereicht. Ich glaube, wir Ostler haben die DDR bis Mitte der 90er Jahre in den Köpfen abgewickelt. Wir haben uns zuerst ein Stück selbst verleugnet: die Herkunft, wie man gesprochen hat. Ich wollte bloß nicht als Ostler auffallen. Da gab es ein mangelndes Selbstwertgefühl. Ich wollte nicht als graue Maus gelten, die sich für Bananen und Begrüßungsgeld angestellt hat. Ich wollte Szene sein.

Um 1990 machten Sie für lange Zeit Ihr letztes Bild …

… von der Antje in der Fabriketage in Neukölln. Und dann ein Freund mit Pistole. Ob die Waffe geladen war? Weiß ich gar nicht. Es ergab sich so, dass das die letzten Bilder waren.

Wo war die Leidenschaft hin?

Ich habe gedacht, völlig klar, die Kamera war die Krücke meiner unerfüllten Wünsche im Osten. Deswegen brauche ich die nicht mehr. Mir geht es doch jetzt viel besser. Mir rauschten Gedanken durch den Kopf, die ich früher bei Aufnahmen nie hatte: Wann bin ich hier fertig? Ist der Film jetzt endlich durch? Es kam nicht mehr aus meinen Herzen. Das war mein Abschiedswort – und schon war ich in der Partyszene.

Jeder feierte lieber Partys, anstatt Fotos zu machen?

Kann sein. Ich steckte auch über beide Ohren im Nachtleben.

"Ich habe keine Berührungsängste mit dem Kommerz."

Mitte der 90er Jahre wurden Sie schließlich Türsteher für Clubs ...

... ich bevorzuge das Wort Einlasser ...

... und erst 2004 beginnen Sie wieder zu fotografieren. Warum?

Das Ostgut war gerade geschlossen ...

... der Vorgängerclub vom Berghain, wo Sie seit 2004 samstags an der Tür stehen ...

... einer meiner neuen Kollegen, der Jan, er hat mich inspiriert. Wir sind zusammen durch Berlin gelaufen. Viel in Schöneweide, Rummelsburg und auf dem ehemaligen Schlachthof an der Storkower Straße. Da kam wieder was zusammen: Orte, die leer geräumt waren, eine Person mittendrin, die sich dafür interessierte und die mich fesselte. Mit Jan begann eine neue alte Zeit.

Sie brauchen diese Vertrauten?

Gefährten nenne ich sie. Das habe ich in New York wieder festgestellt. Nach dem dritten Blick um die Ecke im Nieselregen dachte ich, ich könnte hier Fotos machen – aber mit wem? Und für wen?

Kürzlich haben Sie für Boss T-Shirt-Motive fotografiert. Keine Scheu vor Marken?

Ich habe keine Berührungsängste mit dem Kommerz, wenn man mich so belässt, wie ich bin – und mir nicht 15 Art- Direktoren vorsetzt, die alle was anderes wollen.

Wollte Boss nicht nur von Ihrer Berghain-Fama profitieren?

Hm, ich glaube, in dem Fall nicht. Aber einige Menschen nehmen das so wahr. Im Netz habe ich gelesen: Berghain-Türsteher entwirft Boss-Kollektion. Na ja ...

Sind Sie da dünnhäutig?

Es ist nicht so, dass ich nicht mehr Türsteher genannt werden möchte. Aber es gab jetzt Ausstellungen im Ausland, in Berlin, es gibt mein Buch, ich bin doch mehr.

Sie haben Berlin nie verlassen. Was hält Sie in Pankow – Ihre zwei Katzen?

Auf jeden Fall vertraute Wege. Meine Kollegen, meine Freunde. Zum 9. November habe ich eine große Ausstellung in Turin, da werden 60 Bilder an verschiedenen Orten hängen. Da kommen Leute aus Berlin extra für mich hin, das erdet mich.

Eigentlich wollen Sie nicht weg, weil Sie das Unbekannte fürchten.

Habe ich schon mal drüber nachgedacht. Vielleicht brauche ich wegen meines auffälligen Aussehens einen Anker, um das auszuhalten. Das kann Berlin für mich sein: ein Stückchen Bürgerlichkeit.

Das Buch "Die Nacht ist Leben" (zusammen mit Judka Strittmatter) ist im Ullstein Verlag erschienen, 222 Seiten, 14,99 Euro

Ulf Lippitz

Zur Startseite