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Der Mangel an Elternliebe führt zu Verwerfungen in der Gesellschaft, glaubt der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz.
© imago/Steffen Schellhorn

Interview mit Hans-Joachim Maaz: "Wir Deutsche sind Größenwahnsinnige"

Kitas schaden Kindern, uns fehlt die innere Demokratisierung. Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz analysiert Deutschlands Deformationen.

Herr Maaz, wer Ihr Buch über unser „falsches Leben“ liest, könnte zu dem Schluss kommen, Sie seien zum reaktionären Hippie geworden.

Das empfinde ich als Beleidigung. Ich habe meine Anschauungen nicht wesentlich verändert, aber die Welt um mich herum hat sich so verändert, dass ich mich plötzlich eher konservativ verstehe.

Sie wollen, dass Eltern ihre Kinder zu Hause betreuen. Ihnen sind Begriffe wie Heimat und Nation wichtig. Sie sehen im Liberalismus eine große Gefahr für viele.

Ich gehe die Dinge grundsätzlicher an. Mit Begriffen wie „falsches Leben“ und „Normopathie“ versuche ich zu erklären, wo unsere Gesellschaft in die falsche Richtung läuft. Mag sein, dass ich da zu Schlüssen komme, die nicht ganz auf Linie liegen.

Was ist denn Normopathie?

Wenn die Fehlentwicklung des Einzelnen zu einem Massenphänomen wird, dann erscheint „falsches Leben“ als Norm. Heute ist die narzisstische Störung nahezu zur Bedingung geworden, um erfolgreich zu sein. Wenn etwa die Frühbetreuung von Kindern durch die Eltern für weniger wichtig gehalten wird als die Fremdbetreuung durch Kitas oder Krippen, dann halte ich das für absolut falsch. Es gibt Belege dafür, dass Kitas Kindern schaden.

Sie setzen sich für eine „Herdprämie“ ein?

Das ist ein diffamierender Begriff. In den ersten drei Jahren bauen Eltern ihre Bindung zum Kind auf. Damit wird die Grundlage für seine gesamte spätere Entwicklung gelegt. Wer die Eltern dabei unterstützen will, der ist doch nicht reaktionär!

Wer sein Kind in die Kita gibt, versündigt sich?

Wenn es zu früh, vor dem zweiten, dritten Lebensjahr geschieht, ja! Nach dem dritten Lebensjahr sind gute Kindergärten empfehlenswert. Es kann natürlich auch sein, dass die frustrierte Mutter oder ein autoritärer oder zu liberaler Vater schlecht fürs Kind sind. Eltern müssen lernen, Eltern zu sein. Es geht um Mütterlichkeit und Väterlichkeit.

Und was sagt da die Genderbeauftragte?

Die kann ganz beruhigt sein, weil ich ja auch sage, dass die Rollen nicht unbedingt ans Geschlecht gebunden sind. Aber sie sind nicht zu reduzieren. Auch in einer homosexuellen Beziehung müsste zum Beispiel klar sein, wer das eher mütterliche und wer das väterliche Beziehungsangebot macht. Mit der Genderbeauftragten würde ich mich nur anlegen, wenn es um die angeblich freie Entscheidung geht, welchem Geschlecht oder welcher Zwischenform ein Mensch angehört. Da scheint die Biologie gar keine Rolle mehr zu spielen. Während die Gendertheorie jede geschlechtliche Präferenz als normal und gut betrachtet, sage ich: Wenn ein Mensch sich so oder so erlebt, kann das auch ein Symptom einer schlimmen Fehlentwicklung sein.

Heimat, Nation. Schwierige Begriffe, oder?

Wenn solche Begriffe geringgeschätzt werden, dann halte ich das für pathologisch. Der Mensch braucht Orientierung, Halt und Einbindung. Orte, wo er hingehört und sich auskennt. „Heimat“ ist nicht konservativ, sondern notwendig. Die Globalisierung wird wie ein Naturgesetz indoktriniert. Was dem Kapital dient, wird für Menschen existenziell bedrohlich.

Dann kommen wir zum Hippietum. Sie sagen, dass jegliches Problem dieser Welt letztlich auf Liebesmangel zurückzuführen sei. „Make love not war.“

Ob das schon mal jemand gesagt hat, ist mir eigentlich egal. Ich spreche von einem Mangel an Elternliebe, der zu schwersten Verwerfungen in den Seelen und letztlich in ganzen Gesellschaften führt.

Gut, den Hippies ging es mehr um die geschlechtliche Liebe.

Die Elternliebe unterscheidet sich ganz grundsätzlich davon: Sie ist bedingungslos und nicht sexuell orientiert. Wer sie als Kind nicht erlebt hat, wird auch später Liebe nicht annehmen können. Der muss dann mit seinen Defiziten leben.

Und kompensiert sie und wird durch sein krankes Verhalten zu einem funktionierenden Mitglied unserer kranken Gesellschaft.

So ist es. Wer etwa durch ein narzisstisches Verhalten einen Größenwahn entwickelt, ist ein hervorragendes Mitglied unserer größenwahnsinnigen Welt. Der Narzisst versucht verzweifelt, die Liebe, die ihm seine Eltern verwehrt haben, durch Anerkennung zu erlangen. Da das nicht funktioniert, gerät er in eine Art Sucht: Er braucht immer mehr Äußeres und Materielles, und es wird nie reichen.

"Keiner empfindet sich selbst als schuldig"

Das Holocaust-Mahnmal erinnert an die Ermordung von Millionen Juden durch die Nazis.
Das Holocaust-Mahnmal erinnert an die Ermordung von Millionen Juden durch die Nazis.
© imago/snapshot

Bei Karl Marx bestimmt das Sein das Bewusstsein. Bei Ihnen ist es andersrum. Das falsche Bewusstsein erzeugt das falsche Sein.

Es ist ein Kreislauf: Frühgestörte Kinder entwickeln ein entfremdetes Selbst. Damit errichten sie später ein gestörtes ideologisches, politisches Gebäude. So entwickelt die Gesellschaft ihre Störungen immer weiter. Und erzeugt wiederum neue gestörte Kinder.

Schafft der Kapitalismus den Narzissten oder schafft der Narzisst den Kapitalismus?

Beides. Ein Wechselspiel.

Sie als Psychotherapeut sehen natürlich nur gestörte Psychen und erklären daraus alles. Psychisch Gesunde gibt es für Sie überhaupt nicht?

Jeder hat seine Deformationen. Ich erlebe viele sogenannte Normale, die sich höchst fragwürdig verhalten. Ich sehe Politiker und Prominente, da sind Falschheit und Verdrängung so augenscheinlich, dass es wehtut. Solange sie Erfolg haben, sind sie kompensiert, danach kommt die Krise.

Wenn es die Narzissten sind, die ihre Ungeliebtheit kompensieren, indem sie Großes leisten, dann gäbe es ohne diese wertvollen Störungen nicht nur kein iPhone, sondern auch keine Symphonien.

Viele Kunstwerke gäbe es nicht. Natürlich ist da vieles Ausfluss seelischer Not. Ich hatte Künstler in der Therapie, da war irgendwann klar, dass sie hinterher nicht mehr so malen oder musizieren würden. Wer bei sich ist, muss nicht kompensieren, und wenn Kunst Kompensation ist, dann hört die Kunst dort auf oder sie verändert sich: Kunst kann ja auch Ausdruck von Lebendigkeit und intaktem Leben sein. Aufs iPhone dagegen könnte ich gern verzichten, da es von so vielen nur sinnentleert und süchtig genutzt wird.

Sie haben sich auch ausführlich mit der speziellen deutschen Krankheit befasst.

Wir tragen in uns die Last der größten Verbrechergesellschaft der Neuzeit, aber keiner empfindet sich selbst als schuldig. Es waren die Nazis! In der DDR dann die Bonzen und die Stasi. Und heute die Banker und Politiker! Wir haben eine äußere Demokratie, aber es fehlt das, was ich die innere Demokratisierung nenne. Das Erkennen der eigenen Fehler, Schwächen, Nöte. Es müsste heißen: „Ich Nazi!“, „Ich Kommunist!“, „Ich Kapitalist!“, „Ich Narzisst!“

Verglichen mit anderen Nationen stehen wir heute aber nicht so übel da.

Jetzt sind wir Wirtschafts-Größenwahnsinnige und die größten Moralisten. Diejenigen, die den Flüchtlingen aus aller Welt helfen. Und alle, die das kritisieren, halten wir für Nazis. Eine Reaktionsbildung: Unser unbewältigtes Böses wird kaschiert, indem man sich hinstellt und so tut, als seien wir die größten Helfer. Das sind wir aber nicht.

Sie kritisieren den Umgang mit Pegida und AfD durch Ausgrenzung. Die Ausgrenzung der Rechtspopulisten durchs Establishment geschieht bei uns weit stärker als anderswo. Ist das nicht ein Segen?

Gerade nicht. Da wird etwas vertuscht. Wenn wir uns anlügen und so tun, als seien wir jetzt die Guten, und es sei alles alternativlos, dann erzeugt das Zweifel und Unmut. Die AfD wäre nie so erfolgreich, wenn man von Anfang an gesagt hätte: Was wollt ihr? Lasst uns diskutieren.

Die Versuche gab und gibt es. Sie führen zu wenig.

Und warum? Rechtspopulisten sind doch nur ein Symptom der Krise der kapitalistischen Gesellschaft. Darüber ist zu sprechen. Nicht über die. Über uns!

Bei der Entnazifizierung sind Ost und West unterschiedlich vorgegangen. Wer hat’s besser gemacht?

Beide unterschiedlich schlecht. Der Westen feierte wirtschaftliche Erfolge und konnte glauben, groß und gut zu sein. Über die individuelle Schmach musste niemand mehr reden. Der Osten hat durch Ideologie kompensiert. Wir waren plötzlich die besseren Menschen: Sozialisten, Antifaschisten. Beides hat wie eine Droge funktioniert.

Vom Nazi zum Narzissten.

Ja, in Ost und West wurde das beschädigte Selbst aufgewertet; ich nenne das das „Größenselbst“. Im Osten ist man allerdings später, als es ideologisch und wirtschaftlich nicht mehr gut lief, im „Größenklein“ gelandet. Das ist auch eine narzisstische Strategie – wenn ich mich bedürftig zeige, provoziere ich Zuwendung, vermeintliche Liebe. Das Gefühl des Ostens: Der Westen hat den Erfolg, und wir sind dumm dran.

"Kinder müssen in guter Bindung aufwachsen"

Wir sollten unsere Kinder nicht zu früh in die Kita schicken, fordert Maaz.
Wir sollten unsere Kinder nicht zu früh in die Kita schicken, fordert Maaz.
© pa/Marcus Brandt/dpa

Was soll daran denn noch narzisstisch, also selbstüberhöhend sein?

Es gibt Kinder, die gar nicht die Möglichkeit haben, mit ihrer Kränkung ins Größenselbst zu gehen, zum Beispiel weil die Eltern das nicht zulassen. Aber wenn sie kränkeln, klagen und Schwierigkeiten machen, dann müssen sich die Eltern zuwenden, die Umwelt ist besorgt. Wenn das kultiviert wird, trägt es den narzisstischen Charakter des Größenklein, eine selbstüberhöhende Versorgungsmentalität.

Mit der NS-Schuld sind die Deutschen doch irgendwann erstaunlich offensiv umgegangen.

Die Kollektivschuld wurde geradezu kultiviert. Das funktionierte wie eine Abwehr, um nur nicht die individuelle Schuld, und vor allem nicht den eigenen narzisstischen Mangel erleben zu müssen. Wer seinem ganzen Volk Asche aufs Haupt streut, kann sich einbilden, bei ihm sei alles okay.

Das Holocaust-Mahnmal als Kompensation?

Kann man so sehen. So ein Mahnmal ist wichtig. Aber damit ist noch nicht die seelische Beschädigung jedes Einzelnen, die Mittäterschuld, erfasst. Es braucht auch ein Mahnmal der Mitläuferschuld!

Sie betrachten die Ostler als besonders empfindlich gegenüber unserer westlichen Krankheit. Warum?

Zum einen wurde uns in der DDR der Antikapitalismus umfassend vermittelt. Zum anderen sind wir in die westdeutsche Normopathie nicht langsam hineingewachsen. Um so glücklich verblendet zu sein wie die Westdeutschen, fehlt es uns an Geld und Macht. Nach dem kollektiven Überlaufen ins andere falsche Leben gab es eine kurze Zeit der Illusion, und dann die umso größere Enttäuschung.

Eine Kränkung.

Wäre das Begrüßungsgeld üppiger ausgefallen und alle hätten gleich gut verdient, hätte sich das so nicht entwickelt. Dann wären wir tatsächlich eingekauft worden. Das aber ist nicht gelungen.

Das überforderte Selbst: nach Ihrer Darstellung ein Massensymptom der westlichen Lebensweise. Haben Sie das bei Ihren Patienten oft diagnostiziert?

Ja, aber weniger im Sinne der Überarbeitung. Vielmehr sind es die notwendigen Verhaltensweisen im Wettbewerb, die überfordern. Vielen Ostdeutschen geht es ja materiell besser als früher. Aber die neuen Qualitäten, das Sich-darstellen- und -verkaufen-Müssen, damit kommen viele nicht klar.

Ebenso wie mit Freiheit und Liberalismus?

Freiheit erfordert innere Orientierung. Die aber haben sehr viele nicht, auch im Westen. Wer als Kind zu tun hatte, was Mutter und Vater gefällt, konnte nicht lernen, was für ihn selbst richtig ist. Der erlebt in der Freiheit eine Not, der sucht unendlich, süchtig, und hat gar keine Chance, das für ihn Echte, Richtige herauszufinden. Freiheit nutzt nur dem was, der weiß, wer er ist und wer nicht.

Was also tun?

Kinder müssen in guter Bindung und individueller Bestätigung aufwachsen. Dann können sie später mit Demokratie und Freiheit umgehen.

Also nur Prävention. Heilung gibt es nicht?

Alle Forschung zeigt, dass eine Heilung frühkindlicher Beschädigungen nicht möglich ist. Genesung dagegen heißt: Ich lerne meine Beschädigung kennen und lerne einen Umgang damit, der den Schaden gering hält.

Alles läuft schief, alle rennen in die falsche Richtung. Sie wissen Bescheid. Bisschen narzisstisch klingt das aber auch.

Ich weiß um meine narzisstische Beschädigung. Und behaupte nicht, eine Lösung für die viel zu komplexen Probleme zu kennen. Ich möchte allerdings meine psychotherapeutischen Erkenntnisse zur öffentlichen Diskussion bringen und hoffe, dass sie auch in politischen Entscheidungen berücksichtigt werden.

Wie sind Sie denn an Ihren Narzissmus geraten?

Muttermangel, Muttervergiftung. Mehr Letzteres. Ich war der zweite Sohn, es hieß: „Sei mein Sonnenschein“. Die klassische Formel der Vergiftung. Ich als Kind habe die Verantwortung, zu strahlen, damit es ihr gut geht. Und Muttermangel: Ich hatte nie das Gefühl, dass ich so, wie ich bin, von ihr verstanden und akzeptiert wurde. Vom Vater noch viel weniger. Dieses Gefühl, ich werde nicht wirklich gesehen, das ist mein narzisstischer Stachel. Mit dem, was ich tue, mit meinen Büchern, versuche ich letztlich zu beweisen, dass ich was anderes bin als das, was die Mutter gesehen und der Vater gewollt hat. Und ich habe lernen müssen, meine Defizite und Kränkungen zu betrauern.

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