Berlins älteste Kartenhandlung: Wie die Welt immer kleiner wurde
Die Firma Schropp verkauft den Berlinern seit 275 Jahren, was sie dringend brauchen: Orientierung. Über faltbare Landkarten in Zeiten von GPS und Apps.
Blättern, Knicken, Falten. Bibliotheksgeräusche. Der Fußboden knarzt unterm grauen Teppich. Die Standuhr tickt leise.
„Sagen Sie, ist Wadi Rum von Petra weit entfernt? Ich bin eigentlich nur auf Dienstreise im Land.“ – „So zwei Stunden mit dem Taxi brauchen Sie schon.“ – „Na ja, dann ist es wohl zu weit.“
Seit die Erde den Geodäten ins Netz gegangen ist, also eingefasst in Längen- und Breitengrade, ist jeder ihrer Punkte auf einer Karte darstellbar. Unter den Koordinaten N 52° 30‘ 34.704 E 13° 19‘ 29.064 und 35 Meter über dem Meer ist die Berliner Kartenhandlung mit dem etwas widerborstigen Namen „Schropp Land & Karte“ zu finden. Das Produkt? Orientierung. Im weitesten Sinne. Orientierung für alle.
Denn die Kartenhandlung Schropp bietet den Winkel, von dem aus man die ganze Welt in den Blick nehmen kann. Im Spiegel ihrer Reiserouten entsteht ein Weltbild der Deutschen. Die Gedanken irgendwo in der Ferne, sitzen die Kunden versunken vor Stapeln von Reiseführern. Hier auf etwa 160 Quadratmetern in traditionsreicher Innenstadtlage, Hardenbergstraße 9a im Jahr 2017. Dem Zeitalter, von dem es heißt, analoge Printprodukte stürben aus. Benutzt denn überhaupt noch jemand eine Karte?
Gegründet 1742, bevor es überhaupt Tourismus gab
„Geben Sie mal alles her“, sagen die Leute zu den Verkäufern – und weg sind sie: Kuba, Pommern, Jordanien, Cornwall und die Uckermark. Sie suchen den Kick im Urlaub, Erholung oder die Gebeine der Verwandten. Jetzt ist gerade Fahrradsaison.
Regine Kiepert steuert seit 38 Jahren das Geschäft durch die unruhigen Gewässer mittelständischer Unternehmen. Sie hat mit 21 Jahren für ihre Diplomarbeit als Geografin in Pakistan ein Dorf kartografiert, sie ist durch die Mongolei geritten, sie fährt gerne Kanu und Vespa, aber ihr Unternehmensarchiv am Eichborndamm in Reinickendorf muss sie jetzt suchen. Manchmal scheint eine Reise in die Vergangenheit vertrackter als eine ans andere Ende der Welt.
Der junge Mann, der in dem Gewerbegebiet die Tür zum Berlin-Brandenburger Wirtschaftsarchiv aufschließt, ist kurz davor, sich vor Regine Kiepert zu verneigen. Hunderte Unternehmensgründungen gebe es jedes Jahr in Berlin, aber nur sehr wenige werden überhaupt 100 Jahre alt. Schropp ist eines der ältesten Unternehmen Berlins, 275 Jahre in diesem Jahr, nach der Baumschule Späth, die 22 Jahre früher gegründet wurde. Das Material der Zeit von 1795 bis 1999 lagert hier in Schubkästen.
Wer so lange überlebt, braucht entweder ein zeitloses, immer nachgefragtes Produkt – wie etwa Bäume – oder er muss sich anpassen. Und so ist dies eine Geschichte darüber, wie die Welt und das Reisen sich veränderten – und wie man sich bei Schropp zu helfen wusste. Gegründet, bevor es überhaupt Tourismus gab, bevor der kleine Mann auf Reisen ging und ein großer Wirtschaftsfaktor wurde. Gegründet 1742, als die größten Bewegungen Truppenbewegungen waren, und das Erstellen und Handeln mit Karten Staatsangelegenheit.
Kiepert musste die imposante Geschichte erst kennenlernen
So ein Erbe zu übernehmen, plant ja keiner. So etwas kommt über einen. Ein ehemaliger Mitarbeiter hatte sich an Regine Kiepert, die Tochter von Robert Kiepert gewandt, damals Inhaber der größten, besten Buchhandlung West-Berlins. In Buchläden gab es noch keine Schokoriegel und an der Tankstelle keine Bücher. Es ist 1979, Regine Kiepert beendet gerade ihr Studium der Geografie. Sie besucht ihre Vorgängerin Gertraud Fenz in den Räumen einer ehemaligen Sparkasse in der Potsdamer Straße 100: 185 Quadratmeter Erdgeschoss, 130 im Keller, ein Riesentresor ist noch übrig von der Bank und eine Telefonzelle im Raum. Monatsmiete: 1250 D-Mark. Kiepert konnte nicht Nein sagen.
Die imposante Geschichte der „Anstalt“ musste auch sie erst kennenlernen. Wie 1742 ein Mann namens Simon Schropp von Friedrich II. die Erlaubnis erhält, mit Karten zu handeln. Wie die „Kartographie-Anstalt“ zur größten Berlins wird und Napoleon, plötzlich ganz nah, sich für die Druckplatten interessiert. Wie sie in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in der Dorotheenstraße 53 ausgebombt werden. Danach fehlt es natürlich an allem. Per Kleinanzeige im Tagesspiegel suchen sie Papier, das sie mit Karten bedrucken können – und Atlanten zum Ankauf.
Oft ist es Zufall, was an Dokumenten abgeheftet und aufgehoben wird: Warum ist ausgerechnet die Rechnung über die Sektflaschen für die Weihnachtsfeier noch da? Nein, sagt Kiepert. Das sieht jetzt aus, als hätten sie häufig einen gehoben. Dann geht es um die Weihnachtsdeko 1988, Rechnungen für 60 Kieferngestecke. Es gibt Bestelllisten und Dankschreiben. Und es gibt Schwarz-Weiß-Fotos von ein paar Herren im Freien, Aufschrift „Herrenpartie, Himmelfahrt 1936“. Keiner weiß mehr, welche Herren im Einzelnen zu sehen sind.
War Schropp ein Krieggewinnler?
„Schropp war sicherlich ein Kriegsgewinnler“, sagt Regine Kiepert, denn Karten wurden dringend gebraucht. Vom Militär sowieso, Karten sind kriegsentscheidend. Von ihrer Genauigkeit hängen Sieg oder Niederlage ab. Als präzise Wanderhilfen gelten bis heute die Karten des Schweizer Militärs. Aber auch die Bevölkerung will sich orientieren. Der Frontverlauf, ständig wechselnd, schiebt ein Band des Interesses durch die europäischen, plötzlich verfeindeten Nachbarländer. Die schnarrende Radiostimme trägt täglich neue, unbekannte Namen von Kriegsschauplätzen in die Wohnzimmer der Familien, deren Männer da draußen die Idee des 1000-jährigen Reiches befeuern. Ein Krieg ist eine Welt für sich. Der Frontverlauf schert sich nicht um kulturelle Höhepunkte, er führt durch Sümpfe und Gebirge. Auch die Namen bis dahin völlig unbekannter Landschaften gehen in den Sprachgebrauch ein. Womit verbindet man denn heute noch die Ardennen?
Bekanntlich haben die Deutschen den Zweiten Weltkrieg verloren, aber dann den Titel Reiseweltmeister gewonnen. Es ging um die Eroberung der Welt mit friedlichen Mitteln, man musste nur dem Reiseführer folgen.
Eine paar unbeschwerte Jahrzehnte lang bestimmte das Freizeitverhalten ihre Vorstellung von der Welt. Seitdem ist Schropps Produkt eigentlich die Vorfreude. Zu diesem Zeitpunkt steigt Regine Kiepert ein. Die Italiensehnsucht hat sie von hier aus mit Karten unterfüttert, die Hochzeitsreisen nach Dalmatien, Bulli-Trips in den Nahen Osten. Von ihren Fernreisen kommen die Deutschen mit einer ganz neuen Kunstgattung zurück: Der Diavortrag mit mehreren, sich überblendenden, rotierenden Diakarussells und Musikbegleitung.
Die Bestseller sind Karten aus Berlin und Brandenburg
Ein Paar sucht Radkarten für Dänemark, aber schlechtes Wetter ist angekündigt. „Radfahren im Regen ist gar nicht so schlimm“, versichert Regine Kiepert. „Wenn man erst einmal warm ist.“
Drei Mitarbeiter haben sich auf verschiedene Gebiete spezialisiert, auf die Globen, auf Ost- und Westeuropa. Sie vereinen das Reiselustige mit dem Sesshaften, denn sie sind schon bald 20 Jahre dabei. Sie erfassen sofort, in welchem Maßstab ein Kunde Urlaub machen will.
1:1 000 000 für die ganze Welt, 1:100 000 für die Autokarten, 1:50 000 für die Radwanderwege und Wasserstraßen, Schleusen inklusive. Man gelangt von hier in die hintersten Winkel der Erde, aber die Bestseller sind Karten aus Berlin und Brandenburg: Wanderkarten, Umlandstouren für Berliner Motorbootbesitzer und Wochenendradler.
Am besten verkaufte sich im letzten Jahr eine Karte vom ADFC mit Tagestouren in die Uckermark. „Vor 20 Jahren gab es quasi keine Radkarten.“ Heute sind in der Warengruppe Fahrrad 2000 Artikel im Angebot. „Und das Gebiet wächst noch immer.“ Die Welt ist entdeckt, jetzt möchte sie wiederentdeckt werden. Als Outdoorziel.
Und dann gibt es noch die kleine hölzerne Lade im ersten Raum links hinten: Karten im Maßstab 1:25 000 für kleinste Dörfer, jedes Gehöft ist eingezeichnet. Wer hier nach den Karten Pommerns und Ostpreußens greift, sucht den Maßstab seiner Kindheit, sucht keinen Urlaub, sondern seine Wurzeln. Alle Orte sind auf den Nachdrucken aus den 30er Jahren zweisprachig ausgewiesen, hergestellt vom Bundesamt für Kartographie und Geodäsie.
Jede Karte ist ja ein Ausschnitt aus Ort und Zeit, denn nur zu einer bestimmten Zeit verlaufen die Grenzen eben genau so. Heißen die Orte eben genau so. Die Welt zu kartografieren – was für ein vermessener Gedanke. Jede Generation entdeckt eine andere Welt.
Seitdem es die Apps gibt, wird die Welt immer kleiner
Ein älterer Kunde will unbedingt in den Kaukasus. Er sei dort in Kriegsgefangenschaft gewesen, „es war trotzdem so schön“.
Sollte es irgendwann ein Kartenträgermaterial geben, auf das man wechselnde Inhalte laden kann, sei Schropp ernsthaft in Gefahr, sagt Regine Kiepert. So aber nutzen viele das Smartphone für das Detail und Karten für den Überblick. Karten? Kannste knicken. Das ist ja das Gute: Falten, in die Tasche stecken, draufsetzen. Ach, ein Telefon hat schließlich jeder. Seitdem es die Apps gibt, wird die Welt immer kleiner, so klein wie ein Handybildschirm. Der fehlende Überblick ist Teil des Systems. Das Kartenlesen besorgt das Gerät, man selbst bleibt immer blau pulsierend im Mittelpunkt von allem. Es gibt sogar eine eigene Orientierungsvitrine im Geschäft. Unten liegen die GPS-Geräte für die Kunden, die nach einer der regelmäßig angebotenen Schulungen in unwegsames Gelände ohne Handyempfang aufbrechen. In den oberen Regalen sind Sextanten wieder zu haben und Kompasse in Retrooptik. Als historisches Geschenk für Segler zu Weihnachten, theoretisch benutzbar, aber wahrscheinlicher bleiben sie Dekoration.
So ist es oft in der Gegenwart 4.0: Das einst Notwendige erhält ein zweites Leben als Dekoration. Wie mechanische Armbanduhren. Wie die Einrichtung alter Apotheken, die jetzt als malerischer Hintergrund in Cafés dienen. Wie Schwarz-Weiß-Fotos, die, seitdem es Handys gibt, automatisch als Kunst wahrgenommen werden. Oder auch wie historische Karten. Sie sind gerade sehr gefragt mit ihrer schönen Optik, als historisches Zitat, sie demonstrieren Geschmack, Bildung und Weltläufigkeit. Bester Flohmarktartikel.
Die Erde ist eine runde Sache, trotz aller Konflikte
Auch bei Schropp bieten sie alte, aufgearbeitete Globen an, die jemand aus Nachlässen restauriert. „Manche Leute sehen die Globen im Fenster und glauben, dies sei ein Einrichtungshaus.“ Regine Kiepert schnaubt etwas.
Der Laden zieht seit seiner Gründung acht Mal um. Als sie 2003 Kurs auf die Hardenbergstraße nimmt, verfrachtet Regine Kiepert einige der alten Vitrinen aus dem Laden in ihre Wohnung, als schöne Schränke – was hätte sie auch sonst mit ihnen tun sollen?
Egal wie die Konjunktur schwankt, die Deutschen geben beinahe fünf Prozent ihres Nettoeinkommens für Reisen aus. Das ist der höchste Wert der Welt. In diesem Jahr hat nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung jeder Deutsche im Durchschnitt für seine Reisen 1020 Euro zur Verfügung. Ein Spurenelement davon landet bei Schropp.
Man glaubt ja immer, die Liebhaber der umständlichen Karten seien die Letzten, die etwas mitbekommen von den Veränderungen der Welt. Das Gegenteil ist der Fall. Sie bemerkten bei Schropp sofort, als Weißrussland im Januar fünftägige Kurzzeitreisen ohne Visum ermöglichte. Reisewarnungen, Ängste, politische Ambitionen? Die Auswirkungen des Terrorismus können sie an ihren Nachbestellungen ablesen. Zuletzt haben sie Syrien und die Türkei verloren, aber Kuba gewonnen. Augenzeugen, eben noch unterwegs, erstatten hier Bericht.
Klaus Wowereit hat einen Globus mit Glitzersteinchen
Bulgarien geht gerade gut. Rumänien ist interessant geworden, die Leute machen Bergbegehungen in den Karpaten und Flusskreuzfahrten zwischen Moskau und St. Petersburg. Georgien wird gerade entdeckt, aber auf neue Art, sagt die Expertin für Osteuropa, die auf den Schropp’schen Mitarbeiterfesten kaukasisch kocht. Früher flog man nach Tiflis und schaute sich die Hauptstadt an, heute entdecke man die Natur drum herum.
Die Erde ist ja trotz aller Konflikte noch immer eine runde Sache. Die Globenabteilung wuchs in den letzten Jahren sogar. Als Klaus Wowereit sich aus seinem Amt verabschiedete, kaufte sein SPD-Genosse Jan Stöß zum Abschied für den Berliner Reisebürgermeister einen Globus mit Glitzersteinchen in den größeren Städten. Es war ein teureres Columbus-Spezialmodell. „Die Steine klopft die Gattin des Herstellers persönlich in die Kugel“, sagt Regine Kiepert. Es sei für Kunden auch möglich, an ihrem Wunschort einen Rubin einklopfen zu lassen.
Ihr Vater verpackte die Karten für den Onlineversand
Regine Kiepert mag Substanz und findet den Status von Reisebloggern heute erstaunlich: Irgendwo gewesen zu sein ist schon die ganze Nachricht. Trotzdem profitiert auch ihr Geschäft vom Netz.
2007 erweitern sie das Angebot um einen Onlineshop. Die Leute lassen sich ja jetzt alles Mögliche schicken. Regine Kieperts Vater, der Berliner Buchmagnat, längst hochbetagt, sitzt regelmäßig im Hinterzimmer des Ladens „meiner lieben Tochter“ und verpackt die Karten für den Versand. Im Januar stirbt er mit 88 Jahren. Der Onlinehandel trägt da schon zehn Prozent zum Umsatz bei. Dass es so viel ist, liegt an den speziellen, schwer zu beschaffenden Karten. Und Regine Kiepert ist wichtig, dass auch die quasi fachfremden Produkte wenigstens beim Thema bleiben. Heute führt sie sogar Planetenmobiles, aufblasbare Wasserbälle und einen Anti-Stress-Ball mit Weltkarte: „Einfach drücken und entspannen.“
Touristen meiden ein Land? Das heißt noch nicht, dass niemand sich dort mehr umsehen müsste. Hilfsdienste brauchen Orientierung für Krisenherde. Zurzeit ist es ja unvorstellbar, dass der Welt die Katastrophen ausgehen. Botschafter haben sich schon Karten für ihr Büro aufziehen lassen. Auch die Bundeswehr hat geordert. Ein Charlottenburger Mann kauft gerade zwei opulente Bildbände aus dem Schaufenster. „Für mich selbst zum Geburtstag.“ Die sind noch gar nicht so lange im Programm, freut sich Regine Kiepert. Ist ja eher etwas Ästhetisches.
„Noch was für die Kinder?“, fragt sie. „Einen Reiseführer vielleicht?“ – „Das ist sinnlos“, sagt der Mann.
Regine Kiepert muss das sofort einsehen. Die Jüngsten, hat sie bemerkt, bereiten sich auf eine Reise nicht einmal mehr im Netz, sondern überhaupt nicht vor. Die fahren einfach los.