Org-Verlag in Reinickendorf: Faszinierend analog
Mit gerade einmal 20 Jahren übernahm Karsten Kossatz die Leitung des Org-Verlags in Reinickendorf, der sich auf papierhafte Kalender spezialisiert hat. Und es gelang ihm, den Verlag ins 21. Jahrhunderte zu katapultieren - dem Smartphone mit Kalenderfunktion zum Trotz.
Karsten Kossatz streicht mit der Handfläche über den Terminplaner aus gegerbtem Öko-Rindernappa. Der Chef des Berliner Org-Verlags liebt diese Haptik: "Es ist toll zu spüren, dass es diese Naturmerkmale gibt", sagt der 24-Jährige und zeigt mit dem Finger auf eine winzige Stelle, "hier zum Beispiel sieht man, dass die Kuh dort einen Mückenstich hatte." Kossatz kann sich dafür sehr begeistern. Er steht in seinem neu gestalteten Laden im Reinickendorfer Firmengebäude – dort hat der junge Geschäftsführer mit seinen Mitarbeitern gerade einige Holzpaletten verbaut. In den Regalen präsentiert er seine neue Produktlinie. Und die ist bunter geworden, seitdem Kossatz vor vier Jahren in das Unternehmen einstieg.
Damals war er noch Student und wurde mit gerade mal 20 Geschäftsführer. Eine ungewöhnliche Situation, die so nicht geplant war. Nachdem der Firmeninhaber Hans-Henning Mademann 2011 mit nur 62 Jahren plötzlich starb, war der Schock bei den langjährigen Mitarbeitern des Org-Verlags groß. Immerhin arbeiteten sie in einem familiengeführten Produktionsbetrieb mit einer mehr als 60-jährigen Firmengeschichte.
Nach dem Tod des Geschäftsführers war plötzlich alles anders
Der Vater Bruno Mademann eröffnete 1948 ein kleines Geschäft in der Friedrichstraße. Die Idee, individuelle Terminkalender zu fertigen, hatten seine Ausbilder schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Als diese nicht aus dem Krieg zurückkehrten, nahm Mademann sein Schicksal selbst in die Hand und fertigte die ersten Ringbücher aus Kaninchenleder. Sein kleiner Kundenstamm wuchs Jahr um Jahr. Die Kalendereinlagen waren von Beginn an so gestaltet, dass jeder Benutzer sie individuell zusammenstellen konnte. 1958 kaufte Bruno Mademann die erste eigene Druckmaschine, das Geschäft mit den Terminplanern lief gut. 1976 zog sich der Senior zurück und überließ seinem Sohn Hans-Henning das Unternehmen, das besonders in den 1980er- und 1990er-Jahren rasant wuchs. Eine weitere Druckmaschine wurde angeschafft, dazu eine Sortier- und eine Stanz-Loch-Maschine. Mit dem Ausbau des Betriebs zog der Org-Verlag 1993 an den jetzigen Firmensitz in der Reinickendorfer Nordlichtstraße.
Nach dem Tod des Chefs 2011 war plötzlich alles anders. Die Erben, eine Tochter ist Polizistin, die andere Lehrerin, fühlten sich außerstande, das Unternehmen weiterzuführen. Der Betrieb stand kurz vor dem Aus. Wäre da nicht Rechtsanwalt Wolfgang Kossatz gewesen, der durch seinen Kanzleikollegen, der wiederum als Notar mit der Erbschaftsangelegenheit betraut war, davon erfuhr. Er wollte die Firma retten und übernahm für 2011 die Geschäftsführung, um zunächst das laufende Geschäft zu sichern. Das Jahr darauf rückte sein Sohn Karsten nach. "Ich will den Verlag übernehmen, weil er Zukunft hat", sagte er damals. Das klingt überraschend, schließlich gehört Karsten Kossatz einer Generation an, die fast ausschließlich mit digitalen Medien aufgewachsen ist. Doch er hat seine Entscheidung bis heute nicht bereut – ganz im Gegenteil. Das Analoge fasziniert den Mittzwanziger immer noch. "Unsere Terminplaner sind garantiert piepfrei und bekommen keinen Virus", scherzt er gutgelaunt. Für ihn ist ein individueller Kalender eine Ergänzung zum Smartphone. Er selbst mag es, im Planer zu blättern und sich so einen Überblick zu verschaffen. Auch das handschriftliche Notieren habe mehr Persönlichkeit. "Offline ist Luxus" lautet entsprechend auch einer seiner Leitsprüche.
Flüchtlinge lernen Deutsch im Org-Verlag
"Seitdem ich hier Chef wurde, hat sich sehr viel verändert", sagt Karsten Kossatz. Sein Kommunikationsdesignstudium hat er inzwischen abgeschlossen und anschließend mit zwei Kommilitonen, Simone Hutsch und Bernhard Freudhofmeier, eine Agentur gegründet. "Wir machen mit Paperplain das, was sich viele Mittelständler gar nicht leisten können", sagt Kossatz, "nämlich eine eigene Marketingabteilung zu betreiben, auch der Org-Verlag könnte das nicht." So hat er sie gleich im Haus.
In den Nordlichtstudios, die in das Firmengebäude des Org-Verlags integriert sind, setzt Kossatz kreative Projekte um, vor allem Auftragsarbeiten für andere Firmen. Zum Beispiel das Branding und Webdesign für das familiengeführte Unternehmen Holiday Spa, die Verpackungen für das Bio-Müsli Barnhouse oder das Corporate Design für das Potsdamer Architekturbüro Axthelm Rolvien. Angefangen hat das Team um Kossatz mit einer Kampagne für die Initiative Berlympic, die versucht hat, die Olympischen Spiele 2024 in die Hauptstadt zu holen.
Darüber hinaus ist auch das "Plain Project" entstanden: Als Kossatz aus dem Sommerurlaub zurückkehrte, beschloss er angesichts der vielen Flüchtlinge, die in Berlin ankamen, etwas zu unternehmen. Da er noch einen freien Raum hatte und Freunde, die abends Zeit hatten, entschied er kurzerhand, Sprachkurse anzubieten. Seit dem vergangenen Herbst drückt eine Gruppe von unbegleiteten minderjährigen Jungs aus Afghanistan im Org-Verlag regelmäßig die Schulbank. "Jetzt können wir besser miteinander reden, sie kennenlernen und erfahren, warum sie geflüchtet sind", sagt Kossatz, "es sind ambitionierte junge Männer, die darauf brennen, hier eine Ausbildung zu machen." Er hat Institutionen, Kunden oder Lieferanten über den Org-Verlag aktiviert, um Unterstützung zu erhalten. So hat beispielsweise Adidas Sportkleidung verschenkt, Ikea Möbel zur Verfügung gestellt oder eine Druckerei Papier gespendet. "Das, was wir hier leben, ist der Netzwerkgedanke", sagt Kossatz. Und Netzwerken bedeutet für ihn mehr als Visitenkartenaustausch, es gehe darum, Beziehungen aufzubauen.
Das Unternehmen zukunftsfähig machen
Hätte er den Org-Verlag nur so weitergeführt, wie er war, hätte es sich nicht gerechnet, denn das Geschäft mit den Kalendern ist ein saisonales. Der Überschuss, den er in der zweiten Jahreshälfte erwirtschafte, müsse für das andere Halbjahr vorgehalten werden. Kossatz setzt zwar neue Akzente, aber auch auf die Erfahrungen der langjährigen Mitarbeiter, die nicht nur froh darüber sind, dass es nach dem Tod von Mademann weiterging, sondern auch gut mit den Neuerungen zurechtkommen. Vor einem Jahr ist die Kreuzberger Druckerei Perthel eingezogen. Dass der Verlag für Terminkalender mit individuell zusammensetzbaren Kalenderblättern, die vor Ort gedruckt, gestanzt, perforiert und sortiert werden, um eine Druckerei erweitert wurde, war von Beginn an ein Wunsch von Kossatz. Die Druckerei arbeitet eigenständig – und doch können Synergien genutzt werden.
Kossatz ist sich sicher, dass er das Unternehmen zukunftsfähig machen kann, indem er einen Firmenverbund bildet. Er ist auf dem besten Weg dorthin. Paperplain hat er Anfang 2016 in eine GmbH umgewandelt, die "Nordlichtstudios" entwickelt er mit seinem Team gerade weiter. Sein nächster Plan: eine neue Marketing-Strategie für den Org-Verlag zu starten.
Dieses Stück erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Köpfe" aus dem Tagesspiegel-Verlag, das Sie hier bekommen können: Tagesspiegel Köpfe bestellen